Engelsfuerst
wissenschaftliche Untersuchung der benutzten Farben und des Untergrunds
darüber Aufschluß geben. Vielleicht ist diese Stelle
aber auch nur mit großer Sorgfalt ausgewählt worden.
Es fällt zwar Tageslicht herein, aber selbst bei grellem
Sonnenschein wird das Bild nicht direkt angestrahlt.
Ich weiß das, weil ich schon mehrmals hiergewesen
bin, und zwar zu unterschiedlichen Tageszeiten. Und
noch etwas: Draußen tobt ein heftiger Wind. Merken
Sie hier etwas davon?«
»Nein«, antwortete Enrico, dem das erst jetzt auffiel. »Hier ist es völlig windstill.«
»Ähnliches läßt sich über den Regen sagen. Ich habe hier drinnen noch nie eine Pfütze gesehen.«
Enrico legte den Kopf in den Nacken und blickte
zu der Öffnung hinauf. »Ist dieses Loch, oder wie
man es bezeichnen soll, mutwillig in den Fels gehauen
worden?«
»Das weiß ich nicht. Möglicherweise schon. Vielleicht haben die Etrusker die Höhle aber auch so vorgefunden und hielten sie für besonders geeignet für ihr
heiliges Bild.«
»Wie haben Sie sie entdeckt, Vater Tommasio?«
»Das ist nicht mein Verdienst. Zwischen den Weltkriegen, als San Gervasio ein – jedenfalls im Vergleich
zu heute – großes Kloster war, hat der damalige Abt
das Bild, sagen wir, wiederentdeckt. Er hatte Hinweise aus dem Ort erhalten, die Leute erzählten sich alte
Geschichten über das sogenannte heilige Bild. Und da
der Abt einen Hang zum Bergsteigen hatte, kletterte
er so lange hier oben herum, bis er an diese Stelle kam.
Ironischerweise hatte er das Bild erst weiter unten gesucht – er war sehr erstaunt, es so nahe beim Kloster
zu finden und dann auch noch festzustellen, daß eine
Treppe hierherführt. Die war damals allerdings teilweise verschüttet und von der Straße aus nicht zu sehen. Der Abt hat sie freilegen lassen. Das alles weiß
ich aus den Aufzeichnungen meines Vorgängers, die
ich in der Abtei gefunden habe.«
»Verzeihen Sie, Vater, wenn ich Ihnen so viele Fragen stelle, aber dieses Bild beschäftigt mich sehr.«
Tommasio breitete seine kräftigen Hände aus.
»Fragen Sie nur, deshalb habe ich Sie ja hergeführt.
Was Sie von Ihrem Traum erzählten, hat mich sofort
an das Bild denken lassen.«
»Sie haben es heilig genannt. Warum?«
»Die einfachen Menschen hier in der Gegend haben
das Bild, über dessen wahren Ursprung sie nichts wuß
ten, früher als christliches Werk verehrt. Die Frau in
der Mitte hielten sie für jene Ehebrecherin, die durch
Jesus vor der Steinigung bewahrt wurde. Aber bei genauem Hinsehen zeigt sich, daß niemand einen Stein in
der Hand hat. Die Leute haben es eben nicht besser
gewußt, und vielleicht gab es auch einen überfrommen
Gottesmann, der das Bild für seine Predigten genutzt
und so den Grundstein für den Irrglauben gelegt hat.«
»Aber Sie haben es ein heiliges Bild der Etrusker
genannt, also muß es auch für seine Schöpfer eine besondere Bedeutung gehabt haben.«
Der Abt trat näher an das Bild heran und betrachtete es mit einer Andacht, die Enrico befremdlich erschien, handelte es sich doch um ein heidnisches
Werk. Tommasio verlor sich regelrecht in den Anblick, und es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis er zu
sprechen begann.
»Wir kennen die Überlieferungen der Etrusker nur
höchst lückenhaft, weil wir ihre Sprache bisher erst
ansatzweise entschlüsseln konnten. Aber es gibt einen
lateinischen Text, leider nur in Bruchstücken erhalten,
der uns die Geschichte dieser Frau erzählt, der Tochter der Weißen Göttin.«
»Von der Weißen Göttin habe ich gelesen«, erinnerte Enrico sich. »Sie nahm bei den ansonsten eher
patriarchalisch ausgerichteten Etruskern einen hohen
Rang ein. Bei ihnen hieß sie …«
»Leukothea«, sagte der Abt, während Enrico noch
nach dem Namen suchte. »Was übersetzt nichts anderes heißt als Weiße Göttin. Sie war die etruskische
Muttergöttin, wohl ein Sinnbild für die lebenspendende Erde. Verehrt und gefürchtet zugleich, weil sie
den Menschen reiche Ernten oder verdorrte Felder
und große Hungersnöte brachte. Es gibt Hinweise
darauf, daß die Etrusker Frauen mit ungewöhnlich
heller Haut und hellem Haar als Nachfahrinnen der
Weißen Göttin verehrten. Obwohl das politische Leben der Etrusker von den Männern bestimmt wurde,
hörte man in wichtigen Fragen auf den Rat jener
Frauen, die man Leukotheas Töchter nannte – wohl in
der Hoffnung, sich das Wohlwollen der mächtigen
Göttin zu sichern.«
»Und was ist mit dieser Frau?« fragte Enrico ungeduldig und zeigte auf das
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