Engelsgesang
zeigte.
Ángel atmete tief durch und drehte sich zum Pianisten. Dieser blickte ihn herablassend an.
Was war das hier? Nichts anderes als ein Zirkus, wo jeder Löwe zeigen wollte, dass er am lautesten brüllen konnte. Das jedenfalls hatte ihm Wolfgang gesagt. Und dieser Löwe hier am Konzertflügel fühlte sich dadurch, dass er eine besondere Rolle spielte, außerhalb der Rangordnungskämpfe. Mit dem gepflegten rotblonden Drei-Tage-Bart sah er einem Löwen auch gar nicht so unähnlich. Ángel konnte nicht anders, als ihm zuzulächeln. Verwirrt ließ der Pianist für einige Sekunden seine arrogante Maske fallen und lächelte wie ein Verbündeter zurück. Allmählich spürte Ángel, wie die Nervosität von ihm abglitt und sich Ruhe in ihm ausbreitete.
Er hatte nichts zu verlieren, rein gar nichts, zuckte es ihm durch den Kopf. Aber er hatte so viel zu gewinnen …
Mit einem kleinen Nicken gab er dem Pianisten das Zeichen und richtete seinen Blick über die Köpfe der Anwesenden auf einen imaginären Punkt in der Ferne. Als die Klaviereinleitung geendet hatte, und er die ersten hohen Töne sang, glaubte er seinen Ohren nicht zu trauen. Ein Lachen erklang aus der ersten Reihe. Irritiert fiel sein Blick auf das blonde Mädchen, das sich gerade die Hände vor den Mund hielt und ihn mit großen Augen ansah. Das erstaunte Lachen stand ihr noch immer ins Gesicht geschrieben.
Warum lachte sie?
Machte er etwas falsch?
Scham stieg in ihm hoch und er spürte, dass er über und über Rot wurde. Wie hatte er nur einen Moment glauben können, er könnte etwas besonders gut? Sein Vater hatte es ihm immer wieder eingebläut: er war Abschaum. Wie konnte er nur so anmaßend sein und sich hier zwischen all die ausgebildeten Sänger trauen? Es geschah ihm ganz Recht, dass er jetzt, vor allen Augen, die gerechte Strafe erhielt.
Ángel spürte, wie sich der Boden unter ihm öffnete und ihn in einer gähnenden schwarzen Leere zu verschlucken drohte. Er wünschte sich wirklich, dass dies passieren würde. Doch noch immer stand er für alle sichtbar da und musste die neugierigen Blicke der Menschen über sich ergehen lassen. Gleich würden alle über ihn lachen und mit den Finger auf ihn zeigen.
Ihm schwindelte. Hilfesuchend tastete sein Blick das Publikum ab.
Doch keiner lachte. Es war still. So still, dass man eine Nadel zu Boden hätte fallen hören. Erstaunte, fast ehrfürchtige Augen sahen zu ihm auf. Und dann blieb sein Blick an Professor Endele hängen. Dieser nickte ihm aufmunternd zu und machte mit der Hand eine kreisende Bewegung, die ihn aufforderte weiterzumachen.
Ángel ballte die Fäuste, schluckte und sang weiter, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. Er sang, so wie er es, wieder und wieder, in den letzten Wochen geübt hatte. Er hielt sich an der Melodie fest, die schon andere Menschen Jahrhunderte vor ihm gesungen hatten.
Ab diesem Moment lief plötzlich alles wie von selbst.
Den Heiterkeitsausbruch seiner Konkurrentin konnte er verdrängen. Er wusste, er machte nichts falsch. Alles war richtig, alles war genau so, wie es sein sollte.
Die filigranen Tonsprünge und fremdartigen italienischen Worte flossen ohne Mühe über seine Lippen. Er meisterte die schwierigsten Passagen ohne Anstrengung. Seine Stimme schraubte sich in die Höhe und setzte die Koloraturen so exakt, wie Professor Endele es ihn gelernt hatte.
Als er endete, brausten freigesetzte Endorphine durch seine Adern, und er konnte einen Freudensprung nicht unterdrücken.
Applaus setzte ein und Ángel schwebte von der Bühne.
Er fühlte sich so wunderbar.
28.
28.
Als die Veranstaltung zu Ende war, kam Professor Endele auf Ángel zugelaufen.
„Angel, ich gratuliere dir.“ Er ergriff seine Hand und begann sie wie wild zu schütteln. „Du warst fantastisch. Du hättest nichts besser machen können. Ich bin so stolz auf dich. Ich lehne mich jetzt mal ganz weit aus dem Fenster und behaupte, du hast das Stipendium schon in der Tasche.“ Die letzten Worte flüsterte er fast unhörbar. Dabei strahlte er über das ganze Gesicht.
„Aber …“, Ángel stockte, „der Anfang … da war ich doch ...“
„Mach dir darüber mal keine Sorgen. Du bist jung, ohne Bühnenerfahrung, darüber sehen alle hinweg. Ich bin mir absolut sicher. Und du hast dich ja auch wunderbar aus diesem Schlammassel herausgesungen. Den Rest kannst du vergessen. Es ist wirklich nichts passiert, wofür du dich schämen musst.“ Die Augen des Professors wanderten an
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