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Engelsgesang

Engelsgesang

Titel: Engelsgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.A. Urban
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„Ich habe dich noch nie in der Uni gesehen.“
    In Ángels Kehle steckte ein Kloß, als er antwortete.
    „Ich studiere noch nicht.“
    „Wie, du studierst noch nicht?“
    Alle sahen ihn an und es wurde still am Tisch.
    „Ich bekomme Privatstunden bei Professor Endele.“
    „Ja, ich hab mich schon gewundert, warum der heute da war. Der hat sich doch eigentlich zurückgezogen, hieß es.“
    „Wahrscheinlich haben wir alle falsch gedacht“, sagte das Mädchen, das Doro genannt wurde. „Wahrscheinlich will er, jetzt, wo er einen neuen Wunderknaben gefunden hat, wieder mitmischen.“
    Noch immer waren alle Augen auf Ángel gerichtet. Am liebsten wäre er unter den Tisch gerutscht.
    „Wie alt bist du eigentlich?“, fragte Katharina. In ihren Augen flackerte Neid und noch etwas anderes, das Ángel vorsichtig werden ließ.
    „Siebzehn“, antwortete er leise und hörte die Anwesenden nach Luft schnappen.
    „Und wie lange singst du schon?“ Katharina sah ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, an.
    „Seit drei Wochen.“
    „Seit drei Wochen? Bei Professor Endele?“
    „Ja, auch“, antwortete Ángel und sah das wachsende Erstaunen in den Gesichtern der anderen.
    Wieso waren sie so überrascht? Und wieso bekamen alle plötzlich so finstere Gesichter?
    „Drei Wochen und du singst schon Ruggieros Arie?“
    Ángel hatte keine Ahnung, wovon sie sprachen. Er konnte mit diesen ganzen Gesangsbegriffen nichts anfangen. Unvermittelt überfiel ihn wieder ein Gefühl von Unzulänglichkeit. Er fühlte sich so, als würde er schrumpfen. Die Blicke der Anderen drückten ihn nieder und sein Körper wurde kleiner und kleiner. Sein Brustkorb fühlte sich wie zusammengeschnürt an, und er traute sich kaum noch zu atmen.
    „Wahrscheinlich hat er den Stimmbruch noch nicht hinter sich“, sagte der dunkelhaarige Mann und einige begannen, in die erdrückende Stille zu lachen.
    Thomas lachte nicht.
    „Pass nur auf“, sagte er und legte seine schwere Hand auf Ángels Schulter. „Nach deinem Stimmbruch wirst du vielleicht ein Bariton wie ich. Dann war’s das mit deiner Kariere. Der Endele gibt sich nur mit besonderen Gesangstalenten ab.“
    Die Hand auf Ángels Schulter lastete schwer und erniedrigte ihn noch mehr. Wie ein Kindergartenkind unter wilden Halbwüchsigen kam er sich vor. Halbwüchsige, die unberechenbar und gefährlich waren, und deren Sprache er zu allem Überfluss nicht verstand. Er wusste nicht, was sie von ihm wollten, und er verstand ihre komischen Fachbegriffe nicht.
    „Unterstellst du dem Kleinen etwa ein besonderes Gesangstalent?“, fragte jemand. „Ich würde sagen, es war einfach nur Glück.“
    „Kannst du vielleicht schon ein paar Baritonarien?“, fragte Thomas, der endlich die Hand von seiner Schulter nahm. „Vielleicht den Papageno oder sogar den Wotan aus ‚Rheingold’. Das würde dir später, beim Wechsel des Gesangsfaches, helfen. Vielleicht könnte ich dir beim Einstudieren behilflich sein. Mein Repertoire ist schon ziemlich umfangreich.“
    Unvermittelt stand Thomas auf. Sein Brustkorb dehnte sich, als er Luft holte und mit volltönender Stimme einige Takte eines heroischen Liedes schmetterte. Die Studenten johlten und applaudierten.
    „Und jetzt Angel“, rief Katharina.
    Ein Stromschlag zuckte durch Ángels Körper.
    „Ich lach auch nicht noch einmal“, sagte sie und grinste. Ein hinterhältiger Zug umspielte ihren Mund. „Dieses Mal bin ich auf die seltsame Überraschung ja schon vorbereitet.“
    „Ja, genau, zeig es uns.“
    Das meinten sie doch nicht ernst? Ángel schüttelte langsam den Kopf. Er wollte nicht singen. Doch die anwesenden Studenten sahen das anders. Sie begannen mit ihren Handflächen auf die Tischplatte zu klopfen und grölten dazu: „Angel sing! Angel sing!“
    Ángel wurde schwarz vor Augen. Er glaubte ohnmächtig zu werden. Eine Hand packte ihn am Ellbogen und zwang ihn zum Aufstehen.
    „ANGEL SING! ANGEL SING!“, dröhnte es in seinem Kopf, der zu zerplatzen drohte. Sie konnten ihn doch nicht zwingen. Er konnte nur aus Freude singen, niemals aus Zwang oder Angst. Und er hatte Angst. Sie kroch wie eine Schlange aus seinem Magen herauf. Er sah die Sensationsgier in den Gesichtern der Studenten. Sie würden ihn, egal, wie gut oder wie schlecht er sang, nicht einfach so davonkommen lassen. Er wusste nicht, was sie wirklich von ihm wollten. Vielleicht wollten sie einfach nur seine Niederlage erleben? Dies alles war ein, von Anfang an, abgekartetes Spiel gewesen, bei

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