Engelsgesang
tätschelte Ángel noch einmal kurz die Schulter und lief dann zu ihrem Arbeitsplatz im Nebenraum. Mit zitternden Händen steckte sie den Adapter in die Kamera und atmete hörbar auf, als das Computerprogramm begann, die Fotos einzulesen.
Es war also doch nicht umsonst gewesen.
33.
33.
Fasziniert betrachtete Valerie das Ergebnis der letzten Stunde. Sie würde die Bilder kaum bearbeiten müssen. Hier und da ein wenig Retusche, doch dabei würde sie es belassen. Der Lichteinfall war zauberhaft. Hart traten die Details auf dem Foto hervor. Jede einzelne der dichten, dunklen Wimpern hätte man zählen können und die Narbe wirkte, als könne man ihre Unebenheit auf der glatten Haut ertasten.
Das schrille Klingeln an der Tür riss sie aus ihrer Konzentration. Unmutig stand sie auf.
Wer störte sie noch so spät am Abend? Das war wirklich unverschämt.
Mit festen Schritten ging sie zur Tür und erstarrte für einige Sekunden, als sie Dr. Heyenberg erblickte und ihr die gegenwärtige Situation wieder einfiel.
„Oh, Doktor …“
„Guten Abend, Frau Jugan. Wo ist unser Patient?“
„Er ist … er ist im Atelier.“ Valerie lief eilig vor und blieb dann abrupt stehen. Der Raum war leer. An der weißen Wand lag die achtlos fallen gelassene Decke. Doch von Ángel war keine Spur zu sehen.
Wo war er nur? War es ihm nicht gerade noch so schlecht gegangen, dass sie das Gefühl gehabt hatte, einen Arzt für ihn rufen zu müssen?
„Und? Wo ist er?“, fragte Dr. Heyenberg und sah sich um.
Die Schiebetür zum Garten stand offen. Valerie spähte ins Dunkel hinaus und wies dem Arzt wortlos den Weg.
Ángel kniete an dem, mit Holzbohlen umrahmten Teich. Sein gebeugter Körper zeichnete sich scharf gegen den hellen Kies ab. Eine Hand hatte er ins Wasser getaucht. Absolut still saß er da und schien die Wasseroberfläche versunken zu betrachten. Keine einzige Regung war erkennbar.
Dr. Heyenberg lief mit schnellen Schritten auf ihn zu. Auch das Knirschen des Kieses unter seinen Schuhen veranlasste Ángel nicht, sich zu bewegen.
„Wie fühlst du dich?“, fragte der Arzt und kniete sich neben ihm nieder.
Ángel zeigte keinerlei Reaktion, so als hätte er die Worte gar nicht gehört. Er starrte auf das Wasser und ignorierte sogar die großen Kois, die sanft an seinen Fingern knabberten.
„Wie heißt er?“, fragte Dr. Heyenberg, ohne seinen Blick abzuwenden. Als keine Antwort erfolgte, sah er verärgert auf und wiederholte barsch die Frage „Wie ist sein Name?“
„Ángel van Campen.“ Valeries Stimme klang verschreckt.
Wieder wendete sich der Arzt dem Jungen zu. Seine Stimme war leise, als er auf ihn einredete: „Ángel, ich möchte, dass du jetzt aufstehst und mit mir ins Haus kommst.“
Er fasste ihn am Arm und zog ihn mit sanfter Gewalt auf die Beine.
Widerstandslos ließ sich der Junge aufhelfen und ging mit schlafwandlerischen Schritten an der Seite des Arztes ins Haus zurück.
„Du solltest dich etwas hinlegen. Können wir ihn in ihr Schlafzimmer bringen? Er braucht Ruhe.“
„Ja, sicher, kein Problem“, stammelte Valerie und beeilte sich, ihnen eine Tür zu öffnen.
Dr. Heyenberg führte Ángel zu dem großen Bett. Nachdem der Junge keine Anstalten machte, sich hinzulegen, half er ihm, es sich auf der weißen Tagesdecke aus Rohseide bequem zu machen. Kaum, dass Ángel lag, rollte er sich wie ein Fötus zusammen.
Valerie reichte dem Arzt stumm eine Decke. „Was fehlt ihm denn? Ich versteh das nicht. Wir haben doch nur Fotos gemacht.“ Mit verschränkten Armen lehnte Valerie an ihrem hochglänzenden Kleiderschrank.
„Ich frage lieber nicht nach, welche Art diese Fotos waren, aber Sie hatten mit der Vermutung einer akuten Belastungsreaktion Recht.“
„Akute was?“ Valerie begann nervös herumzuzappeln. Sie strich sich über die Oberarme und verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere.
„Er hatte einen Nervenzusammenbruch“, antwortete der Arzt, ohne zu ihr aufzusehen. Er leuchtete mit einer Taschenlampe seinen Patienten gerade in die Augen. „Irgendetwas ist vorgefallen, mit dem der Junge nicht fertig geworden ist. Er braucht Ruhe und sollte schlafen – und“, er sah Valerie an, „er braucht jemanden, der da ist, wenn er aufwacht.“
„Kann ich ihn nicht mit einem Taxi nach Hause schicken?“, warf Valerie schnell ein.
„Nein, er sollte erst einmal hier bleiben. Es wäre unverantwortlich, ihn vor morgen früh zu transportieren. Rufen Sie jemanden an, der sich um ihn
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