Engelsgesang
Fotoapparat zu greifen. Stattdessen stand sie auf und begann vor der großen Fensterfront auf und ab zu schweben. Wenn Ángel nicht gewusst hätte, dass es bei dieser Frau unmöglich sein konnte, hätte er den Eindruck gehabt, sie wäre ebenfalls nervös.
„Bitte setz dich erst einmal.“ Valerie wies auf die Couch. „Weißt du, welche Art Fotos wir heute machen?“
Ein Blick in Ángels Gesicht reichte ihr aus, die Antwort zu erraten. Sie seufzte auf und schaute in den akkuraten japanischen Garten. Der Kies war frisch gerecht und schimmerte rosa in der untergehenden Sonne. Die kleinen knorrigen Bäume warfen scharfe Schatten darauf.
„Schlag die Mappe auf“, sagte Valerie, ohne den Blick vom Garten zu wenden. Ángel sah sich um. Auf dem Couchtisch lag ein neuer Ordner. Mit schräger Handschrift stand „La petit mort III“ darauf.
Ángel folgte ihrer Anweisung widerwillig. Er befürchtete, die Portraits seines persönlichen Albtraums zu sehen. Er wollte sich Martins Aufnahmen nicht noch einmal anschauen müssen. Zu viel hatte er schon von ihm gesehen. Er wollte ihn vergessen und ihn weder in Natura noch auf Fotos wieder sehen.
Er war erleichtert, als ihm das Gesicht eines fremden jungen Mannes auf dem ersten Abzug entgegenblickte. Der Mann hatte den Kopf zurückgeworfen und hielt die Augen geschlossen. Seine Lippen waren leicht geöffnet. Das Foto strahlte eine schlichte Sinnlichkeit aus. Und trotzdem war da etwas geheimnisvolles, etwas, das er nicht so leicht erklären konnte.
„Erzähl mir, was du siehst“, forderte Valerie, während sie noch immer in ihren Garten hinaussah.
„Ich sehe Portraits“, antwortete Ángel zögernd, während er Foto für Foto betrachtete.
„Gut. Und was zeichnet diese Portraits aus?“, fragte Valerie
„Die Person auf dem Foto leidet“, sagte Ángel leise.
„Was?“ Valeries Stimme klang belustigt.
„Ja, er scheint körperliche Schmerzen zu haben.“
„Bist du dir da sicher? Blättere weiter“, forderte sie. „Und?“
„Ich weiß nicht … auf diesen Fotos lacht er, und ... auf dem nächsten scheint er zu schreien …“ Ángel verstummte, als er die letzte Seite aufschlug. Sie zeigte endlich ein eindeutiges Ganzkörperfoto. Der Mann lag auf einem Bett, und man konnte sehen, dass er sich gerade selber Lust verschaffte.
„Aber … er ...“, keuchte Ángel erschrocken auf.
„Ja? Was?“
„Er holt sich … einen runter …“, stammelte er.
„Ja, aber man könnte es auch poetisch ausdrücken“, berichtigte ihn Valerie. „Er erlebt den kleinen Tod … la petit mort … schlicht und einfach einen Orgasmus. Bist du schockiert? Willst du die Fotos nun nicht mehr machen?“ Ihre grauen Augen lasteten auf Ángel, während er sich vor Verlegenheit zu winden schien. „Ich werde dir die Entscheidung nicht abnehmen. Ich kann dir ein gutes Honorar versprechen, aber wirklich helfen kann ich dir weder bei den Fotos, noch bei deinem Entschluss.“
Ángel hielt den Kopf gesenkt. Die Mappe lag jetzt zugeschlagen auf seinem Schoß. Er schluckte schwer. „Ich will diese Fotos machen“, antwortete er endlich. Sein Blick klebte noch immer am Boden.
„Möchtest du das wirklich?“ Ihre Stimme war drängend. „Du musst mir vertrauen. Ich kann nur gute Arbeit leisten, wenn du mir absolut traust. Kannst du das?“
Ángel nickte stumm.
„Falls du es wirklich willst, musst du dich völlig von deiner Scham und deiner Schüchternheit lösen. Ich möchte, dass du ganz natürlich agierst, so als wärst du allein. Es ist völlig unwichtig, wie viel Erfahrung du in diesen Dingen schon hast. Wichtig ist, dass bei dir ein lebendiges Kopfkino beginnt, dem du dich hingeben kannst. Ich werde nur Fotos von deinem Gesicht und deinem Oberkörper machen. Es wird also nichts Anstößiges oder Pornographisches entstehen. Ich werde dich mit meinen Worten lenken, damit es nicht zu schnell geht, aber die Hauptarbeit liegt bei dir.“
Wieder nickte Ángel.
„Gut. Ich würde vorschlagen, du stellst dich dort an die Wand.“
„Im Stehen? Ich dachte …“, Ángel verstummte und sein Gesicht wechselte rasant die Farbe. Seine blasse, übernächtigt wirkende Haut nahm einen rosigen Ton an, der ihm ein erhitztes Aussehen verlieh.
Valerie lächelte, als sie das sah.
„Ja, warum nicht? Ich möchte dich gern im Stehen fotografieren. Du kannst dich an die Wand lehnen, mit dem Rücken, mit der Stirn, was du möchtest. Das steht dir frei.“ Sie trat ein paar Schritte auf ihn zu. „Alles
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