Engelsgesang
körperlich unterlegen schien, sah er van Campen ungeniert ins Gesicht. Für Wolfgang wirkten diese wenigen Sekunden wie ein geistiges Kräftemessen. Er konnte die Spannung, die sich zwischen diesen zwei so unterschiedlichen Männern aufbaute, kaum ertragen. Wieder suchte seine Hand die Zigarettenschachtel in seiner Jackentasche und begann sie zu drehen und zu wenden.
„Dann rede, Junge“, sagte van Campen und betonte dabei abfällig das letzte Wort.
„Ich glaube nicht, dass es Ihnen recht sein wird, das Thema zwischen Tür und Angel zu besprechen. Ich gehe mit Ihnen nach drinnen und mein Freund wartet hier. Wenn ich in zwanzig Minuten nicht wieder draußen bin, wird er die Polizei rufen, die sich dann Ihres Problems annehmen wird.“ Martin sprach die ganze Zeit mit einer gelassenen, fast geschäftsmäßig klingenden Stimme, so als wäre er dabei, eine Waschmaschine zu kaufen.
Van Campens Augen wanderten über Martins Gesicht und huschten dann zu Wolfgang hinüber. „Sugerdaddy ist also die Versicherung, dass ich dir nicht den Hals umdrehe, während wir verhandeln? Glaubst du wirklich, ich würde so etwas tun?“
„Ich bin mir sicher, dass Sie schon viel schlimmere Dinge getan haben“, entgegnete Martin, ohne mit der Wimper zu zucken.
Van Campen lachte. „Okay, gehen wir nach drin.“ Mit einem fiesen Grinsen und den Worten: „Wie geht’s deiner Hand, Sugerdaddy?“, schloss er die Haustür vor Wolfgangs Nase.
61.
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Wie ein Hofhund blieb Wolfgang zurück, während der kalte Regen über sein Gesicht in seinen Kragen hineinfloss und sich einen Weg seinen Rücken hinab suchte. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Zu einem Hilfsarbeiter hatte ihn dieser Sargschläfer degradiert. Er sollte jetzt dort drin sein und van Campen zur Rede stellen. Er sollte ihm Drohungen und Beschimpfungen entgegen schleudern, und er sollte am Ende das Zeugnis in der Hand halten, um es Ángel überreichen zu können. Stattdessen hatte er sich einfach so ausknocken lassen. Ohne ein Wort des Widerspruchs hatte er sich bereit erklärt, den Handlanger zu spielen. Vor Wut kochend zog er nun doch eine Zigarette aus der zerdrückten Schachtel und zündete sie sich mit einiger Mühe an. Seine regennassen kalten Hände wollten ihm nicht sofort gehorchen. Einige Male erlosch das Feuerzeug im feuchten Windzug. Schutzsuchend lief er um die Ecke und schaffte es endlich, sich die krumme Zigarette anzuzünden.
Sein Blick schweifte über den gepflegten Garten bis zur Mauer, die sich im Regen abzeichnete und das gesamte Grundstück zu umschließen schien. Er sah zu den dunklen vergitterten Fenstern hinauf, die wie tote Augen auf ihn herabblickten. Hier also hatte Ángel seine Kindheit verbracht. Er konnte sich so gar nicht vorstellen, dass Kinder an diesem Ort ausgelassen spielen konnten. Alles wirkte steril, wie in einem Schlosspark, für dessen Besichtigung man Eintritt bezahlen musste. Sicher beschäftigte van Campen mindestens einen Gärtner, der dies alles in Schuss zu halten hatte. Er konnte sich diesen harten, grausamen Mann beim besten Willen nicht bei aufopferungsvoller Gartenarbeit vorstellen.
Wolfgang machte einen großen Schritt über ein Beet. Sein Schuh versank fast bis zum Knöchel in der aufgeweichten Erde. Fluchend zog er den Fuß heraus, stampfte ein paar Mal auf den Rasen auf, um den Schlamm abzuschütteln und lief dann zur Rückseite des Hauses. Vielleicht konnte er einen Blick in das Zimmer werfen, in dem Martin mit van Campen redete. Dann würde er sich wenigstens nicht ganz so ausgeschlossen fühlen.
Eigentlich war die Überlegung gar nicht so schlecht gewesen, van Campen zu drohen, dass eine Person, die den Verlauf des Gespräches nicht mitbekam, nach einer gewissen Zeit die Polizei rufen sollte … Mist, er hatte vergessen auf die Uhr zu schauen. Wie viel Zeit war bisher vergangen? Zehn Minuten? Fünfzehn? Seiner klammen Kleidung und dem nasskalten Gefühl nach zu urteilen, sogar schon eine halbe Stunde.
Breite Stufen, die zu einer Terrasse führten, forderten Wolfgang nahezu auf, durch ein erleuchtetes Fenster zu schauen. Das Glas war undurchsichtig und teilweise mit bunten Butzenscheiben durchsetzt. Wolfgang trat seitlich an den Fensterstock heran und versuchte das Innere des Raumes zu erkennen. Unscharf nahm er zwei dunkle Gestalten war, die sich gegenüberstanden. Jetzt, wo er sich konzentrierte, hörte er auch die gedämpften Stimmen nach draußen dringen. Doch das Geräusch des fallenden
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