Engelsgesang
meinst“, antwortet Martin einsilbig und blickte stur auf die dunkle Straße, die nur von den hellen Scheinwerferkegeln durchschnitten wurde. Regen zog schräge Streifen durch die Lichtkegel.
Nervös rutschte Wolfgang auf seinem Sitz hin und her. „Wer ist eigentlich dieser Frater Azurite von dem sie geredet hat? Irgendein Ordensbruder?“
„Was soll das? Wozu willst du das wissen? Du brauchst das doch sicher nicht, um mit mir heute Nacht diesen Typen klarzumachen?“ In Martins Stimme lag eine Aggressivität, die Wolfgang fast körperlich spüren konnte.
Trotzdem redete er unbeirrt weiter. Er konnte einfach nicht anders: „Weißt du, Martin, ich bin ein ganz normaler Kerl. Ich gehe meinem mehr oder weniger geregelten Leben nach. Ich sehe vertrauenswürdig aus. Aber du … je mehr ich über dich in Erfahrung bringe, umso zwielichtiger wirst du. Wie soll ich dir vertrauen?“
„Du musst mir nicht vertrauen. Außerdem habe ich keine Lust, einen Seelenstriptease vor dir zu machen. Morgen früh geht jeder wieder seinen Weg und wir müssen nie wieder etwas voneinander hören. Also halte deinen Mund! Ich werf’ dich sonst, so wahr ich hier sitze, aus meinem Auto und ziehe das Ding allein durch.“
Wolfgang biss sich auf die Zunge, während sich seine Faust zusammenballte und die Zigaretten, die er umklammert hielt, zerknickten. Doch er hielt sich an Martins Ansage. Er wollte nicht riskieren, den Abend trampend auf einer regennassen Straße zu beenden. Viel lieber wollte er Ángels Vater zur Rede stellen … obwohl er sich nicht sicher war, ob sich das als gute Idee herausstellen würde. Eine kaputte Hand hatte er schon davongetragen. Eigentlich wollte er nicht auch noch eine zerschlagene Nase riskieren … Aber einen Versuch war es allemal wert.
60.
60.
Als sie vor Ángels Elternhaus ankamen, regnete es noch immer in Strömen. Sie standen vor dem schmiedeeisernen Tor und schauten den kiesbestreuten Weg hinauf, zum Eingang des großen schlossähnlichen Hauses. Zwei Türme zeichneten sich im unablässig fallenden Regen ab. Die gewundenen Spitzen des Tores ragten in die dunkle Nacht hinein und zeigten eindeutig, wie unerwünscht hier Gäste waren. Vergitterte Fenster blickten dunkel zu ihnen herab. Hinter einem sah man einen schwachen Lichtschein, der von einem Flur oder einem Raum aus dem hinteren Gebäudeteil herrührte.
„Das Schwein ist noch wach“, sagte Martin und ging zur Torsäule, in die eine Sprechanlage eingelassen war. Sekundenlang presste er den Finger auf den Klingelknopf, bis endlich eine verärgerte Stimme aus dem Lautsprecher: „Was soll das?“, schrie.
Wolfgang drängte sich an Martin vorbei zum Lautsprecher und sagte mit freundlicher, ruhiger Stimme: „Entschuldigen Sie die späte Störung, Herr van Campen. Es geht um Ihren Sohn Angel.“
„Ángel? Der wohnt nicht mehr hier!“ Die Sprechanlage wurde mit einem Klacken abgeschaltet.
Martin warf Wolfgang einen drohenden Blick zu und drückte erneut auf den Klingelknopf, so lange, bis die Sprechanlage erneut zum Leben erwachte.
„Was denn noch?“, bellte die Stimme.
„Öffnen Sie die Tür. Ich rufe sonst die Polizei. Ich glaube, die würde sich für das Verhältnis, was Sie zu Ihrem Sohn pflegen, sehr interessieren.“
„Wollen Sie mich erpressen?“ Die Stimme nahm einen lauernden Unterton an.
„Nur wenn Sie mir etwas anzubieten haben.“
Ein paar Sekunden blieb es still, dann ertönte der Türsummer und das Tor sprang einen Spalt weit auf. Wolfgang sah Martin mit einem erstaunten Ausdruck an. „Das ging aber schnell.“
„Man muss eben wissen, wie man mit solchen Leuten zu reden hat“, entgegnete Martin lässig.
„Na, wenn du das sagst. Ich hoffe, du weißt, was du tust.“
„Ich werde improvisieren“, entgegnete Martin und schritt zügig den Weg zum Haus hinauf. Der nasse Kies knirschte unter ihren Sohlen. Hinter dem bunten Glas der mit Schnitzereien verzierten Haustür flammte ein Licht auf. Wolfgang nestelte seine zerknüllte Zigarettenschachtel heraus.
„Lass das“, zischte Martin und veranlasste ihn damit, sie augenblicklich wieder einsteckte. „Wir hinterlassen keine Kippen, Zigarettenasche oder sonstiges. Verstanden?“
Schritte erklangen im Haus und die Tür wurde mit einem kräftigen Ruck aufgerissen. „Was wollt ihr?“ Breitbeinig stand Gabriel van Campen in der Eingangstür. Ein gefährliches Feuer glomm in seinen Augen.
„Reden.“ Obwohl Martin einige Stufen tiefer stand, und ihm somit
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