Engelsgrab
maßgeschneiderten Anzügen, Einstecktuch und Krawatte. Lediglich seine aufgedunsenen Züge wiesen auf den Trinker hin.
»Aber, was soll’s?« Wolfe strich sich über seinen kahlen Schädel, bevor er wieder auf die Autopsie zu sprechen kam.
»Wenn der Autopsiebericht fertig ist, werden Sie ihn per E-Mail erhalten. Es gibt da ein, zwei Dinge, die vielleicht nicht ganz uninteressant sind.«
»Welche?« Brady beugte sich vor und war gespannt, was Wolfe herausgefunden hatte.
»Der Zeitpunkt des Todes lag irgendwo zwischen halb eins und zwei Uhr morgens.«
»Geht es nicht etwas genauer?«
»Ich dachte, das wäre schon ziemlich genau. Schließlich kann ich mich nur an den Mageninhalt, die Dauer der Leichenstarre und die Körpertemperatur halten. Außerdem bin nicht ich der Ermittler, sondern Sie. Wenn Sie meinen, Sie können die Zeit näher bestimmen, dann nur zu.«
»Entschuldigung.« Brady hob die Hände.
»Kann ich jetzt weitermachen?«
»Bitte.«
»Am Hals der Toten gab es keine Fingermale. Da waren nur die Kratzer, die unser Opfer sich selbst zugefügt hatte, und eine Schwellung. Zudem einen roten Strangulationsstreifen und oberhalb und unterhalb davon Blutungen unter der Haut. Und ihr Zungenbein war gebrochen, auch das ein typisches Zeichen für eine Strangulation.«
»Sie ist mit einem Schal erwürgt worden«, sagte Brady.
»Möglich. Ihr Schädel wies Frakturen auf, und in ihrem Gehirn befanden sich Knochensplitter, aber es gab keine Blutung zwischen Schädel und Dura mater. Was auch heißt, dass sie tot war, ehe es zum Trauma an Gesicht und Schädel kam.«
Brady bezwang seine Ungeduld, denn diesen Befund hatte er mehr oder weniger erwartet.
»Das Mädchen hatte nie geboren«, fuhr Wolfe fort und griff nach seinem Glas. »Und zum Zeitpunkt des Todes war sie nicht schwanger. Allerdings gab es Anzeichen sexueller Aktivität, die kürzlich stattgefunden hat, jedoch nicht erzwungen war. Die Proben ihrer Vaginal-und Analflüssigkeiten werden noch analysiert.«
»Also wurde sie nicht vergewaltigt.«
»Ich dachte, das hätte ich gerade gesagt.«
»Und wie lange liegt der Sexualverkehr zurück?«
»Den hatte sie in der Stunde vor ihrem Tod. Aber«, Wolfe hob den Zeigefinger, »innen und außen von Vagina und Perineum befanden sich etliche Hautnarben, die etwa vier Jahre alt sein dürften.«
»Heißt das, sie wurde sexuell missbraucht?«
»Wäre meine Vermutung, ja«, antwortete Wolfe.
Brady nickte wenig überrascht. Also hatte es in dem Leben von Sophie Washington doch Vorkommnisse gegeben, die ihre Eltern entweder nicht kannten oder für sich behalten hatten.
»Reicht Ihnen das fürs Erste?«, fragte Wolfe. »Die Ergebnisse der Blut-und Urinproben stehen noch aus. Ob Ihr Mädchen vor ihrem Tod high oder betrunken war, kann ich deshalb noch nicht sagen.«
»Eins von beiden wird es wohl gewesen sein«, sagte Brady.
»Heute wird man eben schneller erwachsen als zu unserer Zeit«, meinte Wolfe und griff nach seinem Glas.
Das sah Brady zwar anders, aber er behielt es für sich. Für ihn blieb Sophie ein Kind, auch wenn sie mit fünfzehn sexuelle Erfahrungen gehabt und möglicherweise auch Drogen genommen und getrunken hatte. Ein Kind, das im Alter von elf Jahren zum Sex gezwungen worden war.
Vor seinem inneren Auge tauchte das Gesicht von Paul Simmons auf.
Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann sein Kind sexuell missbraucht, lag bei Stiefvätern viermal höher als bei leiblichen Vätern, und bei Paul Simmons hatte Brady von Anfang an ein ungutes Gefühl gehabt. Und wenn er sich recht entsann, hatten die Simmons auch vor etwa vier Jahren geheiratet.
Auch die Fotos an der Wand in Sophies Zimmer fielen ihm wieder ein. Die Kinder wurden heute nicht früher erwachsen, aber offenbar wünschten sie sich, es früher zu sein.
»Sophie war erst fünfzehn«, bemerkte Brady und blickte Wolfe an.
»Ich habe Ihnen nur berichtet, was ich gefunden habe. Was Sie damit anfangen, das ist Ihre Sache«, sagte Wolfe, während seine scharfen Augen Brady musterten.
Kapitel 30
Brady schnappte sich die Abendausgabe des Northern Echo, die ihm irgendjemand auf den Schreibtisch gelegt hatte, zusammen mit ausgedruckten E-Mails, die er beantworten sollte, und einem Stapel Berichte, die als dringend markiert worden waren. In der Zeitung hatte Rubenfeld es mit seiner Story auf die Titelseite geschafft, und es war eine Belohnung von fünfundzwanzigtausend Pfund für zweckdienliche Hinweise im Mordfall Sophie
Weitere Kostenlose Bücher