Engelsgrab
Washington ausgesetzt worden. Letzteres hielt Brady für einen plumpen Schachzug, sich über die Auflagenhöhe hinaus einen Anstrich von Achtbarkeit zu verschaffen, als läge der Zeitung nur am Herzen, der Polizei zu helfen.
Nichts als eine leere Geste, dachte er und ließ sich auf seinen Schreibtischsessel fallen. Für ein paar Tage würde der Mord Schlagzeilen machen, langsam auf die nachfolgenden Seiten rücken und schließlich verschwinden. Die Sensationsgier der Leser wäre dann gestillt, Sophies Leben ausgeschlachtet worden, bis nichts mehr davon übrig wäre, und die Geschichte würde allmählich so langweilig werden, dass Rubenfeld und seinesgleichen nach einem neuen Opfer Ausschau halten würden.
Trotzdem musste Brady die Kaltschnäuzigkeit des Northern Echo bewundern. Es war clever, denn Brady hatte noch nie erlebt, dass eine Belohnung ausgezahlt worden war. Dennoch würden die ausgesetzten fünfundzwanzigtausend Pfund jede Menge Aufmerksamkeit erregen, erst recht im Nordosten, inmitten der Rezession und angesichts der hohen Arbeitslosenrate. Im Geist stellte Brady die Polizisten zusammen, die fortan an den Telefonen sitzen würden, um die aberwitzigsten Hinweise entgegenzunehmen, denn für fünfundzwanzigtausend Pfund würden die Leute ihre eigene Großmutter verkaufen.
Missmutig warf er die Zeitung in den Papierkorb, zog noch einmal das Foto von Sophie und ihrem Klassenlehrer hervor und betrachtete es ausgiebig. Seiner Meinung nach musste Kate blind sein, wenn sie die Beziehung der beiden als harmlos abtat.
Brady warf einen Blick auf seine Uhr. Inzwischen war es halb sechs. Er nahm sein Handy und rief bei sich zu Hause an.
Nach längerem Klingeln meldete sich Kate zögernd mit einem »Hallo«.
»Kate, ich bin’s. Wie –«
»Hast du was von Jimmy gehört?«, fragte sie schnell.
»Noch nicht«, sagte Brady und versuchte ruhig zu klingen. Er blickte zum Fenster, wo trübes Licht durch die Jalousien drang.
»Das wird mir langsam unheimlich«, sagte Kate. »Er meldet sich ja nicht einmal an seinem Handy.«
»Aber du weißt doch, wie er ist. Er wird –«
»Spar dir den Rest«, unterbrach sie ihn zornig. »Jimmy erzählt dir doch immer alles, also hör auf, mich für dumm zu verkaufen.«
»Wenn ich ehrlich bin, tappe ich dieses Mal genauso im Dunkeln wie du. Aber ich habe nicht wegen Jimmy angerufen. Ich wollte dir nur sagen, dass es im Fall Sophie ein paar neue Entwicklungen gibt.«
»Welche? Mein Gott, hast du herausgefunden, wer ihr das angetan hat?«
»Nein, aber ich muss ein, zwei Hinweisen nachgehen und deshalb auch noch mal mit Evie reden.«
»Schlag dir das aus dem Kopf. Das Kind ist fix und fertig.«
»Kate, bitte, es führt wirklich kein Weg daran vorbei. Ich würde doch gar nicht fragen, wenn es nicht so wichtig wäre.«
Kate seufzte.
»Aber wenn du sie wieder so aufregst, dann –«
»Das werde ich nicht. Es muss ja auch nicht jetzt sein. Ich melde mich später am Abend noch mal.«
»Warte«, rief Kate, ehe er auflegen konnte.
»Ja?«
»Hättest du mich nicht netterweise darauf hinweisen können, dass deine Freundin bei dir wohnt? Die war bei unserem Anblick nicht sehr begeistert. Aber sie kam ja auch gerade erst aus dem Bett und hatte so gut wie gar nichts an.«
»Verdammt«, murmelte Brady.
Also hatte Conrad doch richtig gelegen. Für einen Moment fragte sich Brady, was und wie viel Dornröschen getrunken hatte, wenn sie ihren Rausch am nächsten Nachmittag immer noch nicht ausgeschlafen hatte. Oder vielmehr, was er getrunken hatte, da er sich an nichts mehr erinnern konnte.
Wieder hatte er das Bild der zitternden jungen Frau vor Augen, die in Slip und T-Shirt oben an seiner Treppe stand.
»Es tut mir leid, Kate«, entschuldigte er sich kleinlaut. »Bitte, glaub mir das. Sie wohnt auch nicht bei mir, sondern –«
Gerade Kate hatte nicht sehen sollen, wie weit es mit ihm gekommen war. Er war nicht wie Matthews, aber welchen Zweck hatte es, ihr das jetzt noch zu sagen. Brady erinnerte sich an den Abend, als er mit Claudia über Simone Henderson gesprochen hatte, und an seine inständigen Beteuerungen, sie habe ihm nichts bedeutet, sondern sei nur ein dummer idiotischer Ausrutscher gewesen. Nichts davon hatte Claudia hören wollen. Jetzt, nach qualvollen Monaten der Selbstzerfleischung, wusste Brady, dass er kein Recht gehabt hatte, Nachsicht zu erwarten. Claudia hatte einen besseren Mann als ihn verdient. Das hatte er zwar von Anfang an gewusst, aber immer wieder
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