Engelsgrab
Urlaub gemacht, denn die Zeiten, in denen der Ort ein Ferienparadies war, gehörten längst der Vergangenheit an.
Inzwischen waren nur noch der Wohnwagenplatz und eine Minigolfanlage vorhanden. Verschwunden waren die Buden, in denen man früher Zuckerwatte und saure Drops hatte kaufen können. Ebenso die Schießbuden, die Karussells und die Geisterbahn. Dort, wo die Achterbahn gestanden hatte, war jetzt eine Grundschule errichtet worden. Wehmütig erinnerte Brady sich an die seltenen Tage, an denen er als Junge, mit ein paar kleinen Münzen in der Tasche, in einem der Wagen der Walzerbahn gesessen hatte und mit klopfendem Herzen und kreischend und jauchzend durch die Luft gewirbelt worden war. Als es zu nieseln begann, wandte er den Blick ab, zog den Mantel enger um sich und stieß das schmiedeeiserne schwarze Friedhofstor auf. Am Rand des Wegs stand ein dunkelgrauer Leichenwagen. Am Steuer saß ein säuerlich wirkender Mann, der auf das Lenkrad trommelte. Brady nahm an, dass sich der Leichenzug verspätet hatte. Anscheinend durfte man nicht einmal mehr als Toter unpünktlich sein.
Doch dann begannen die Glocken der Friedhofskapelle zu läuten, und die ersten Trauergäste kamen durch das Portal heraus. Brady schlug den Weg entlang der verwitterten Grabsteine und bröckelnden steinernen Engel ein. Wie schon als Kind begann er, seine Schritte zu zählen. Als er bei fünfzig war, blieb er stehen und stutzte. Irgendjemand war ihm zuvorgekommen.
Ein prächtiger Strauß weißer Lilien stand in einer Vase vor dem grauen Grabstein. Unzufrieden betrachtete Brady die kümmerlichen Blumen in seiner Hand. Er wusste, wer vor ihm dagewesen und ihn, wahrscheinlich ohne es zu wollen, ausgestochen hatte. Für einen Moment war er drauf und dran, seine Blumen in den nächsten Abfalleimer zu stopfen, doch dann ließ er sich auf den Knien nieder und steckte sie zu den anderen.
Mit schwerem Herzen las er den Namen auf dem Grabstein und schloss die Augen, als die Stimmen der Vergangenheit in seinem Kopf lauter wurden.
»Ich wusste, dass ich dich hier finden würde«, kam von hinten eine raue Stimme.
Brady öffnete die Augen und richtete sich schwerfällig auf.
»Was willst du schon wieder?«
»Warum bist du so unfreundlich?«, fragte der Alte und schwankte ein wenig.
Angewidert musterte Brady den schäbig gekleideten Mann. Bei Tag sah er noch schlimmer aus als am Abend zuvor. Das ehemals sandfarbene gelockte Haar hing in dünnen grauen Strähnen herab, und das gelblich verfärbte Gesicht war voll von geplatzten Äderchen und schrundigen Stellen. Der Körper war schwammig geworden, und die Hände waren von Leberflecken übersät.
»Was guckst du so?«, fragte er Brady. »Weißt du nicht mehr, wer ich bin?«
Der Alte zog eine Wodkaflasche aus der Jackentasche und nahm einen langen Schluck, ohne Brady dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
»Was willst du?«, wiederholte Brady.
Der Alte setzte die Flasche ab und wischte sich über den Mund. »Du könntest ruhig ein bisschen netter zu mir sein, Jackie.«
»Warum kommst du nicht endlich zur Sache?«, fragte Brady.
»Ich bin ein bisschen klamm.«
»Ich habe dir schon genug Geld gegeben.«
Der Alte grinste ihn an und entblößte dabei seine verfaulten Zähne.
»Anscheinend nicht. Sonst wäre ich ja jetzt nicht hier.«
»Es gibt nichts mehr. Das habe ich dir schon beim letzten Mal gesagt.«
»Na, komm, mach schon, Jackie«, winselte der Mann.
Brady wandte sich ab und ging davon.
»Ich lass dir Zeit bis Montag«, rief der andere ihm nach. »Montag komm ich wieder.«
Brady schob seine geballten Fäuste tief in seine Manteltaschen und ignorierte die Blicke, die ihm von ein, zwei anderen Friedhofsbesuchern zugeworfen wurden. Dicke, salzig schmeckende Regentropfen schlugen ihm ins Gesicht. Er fing an zu rennen.
Als er sich mit aschfahlem Gesicht auf den Beifahrersitz schob, sah Conrad ihn fragend. Aber er sagte nichts.
Mit zittriger Hand fuhr Brady über sein feuchtes Haar.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, erkundigte Conrad sich schließlich.
»Doch. Aber bitte, fahren Sie los.«
Brady zwang sich zur Ruhe. Es gab nur einen Menschen, der ihm helfen konnte. Er holte sein Handy heraus und tippte die Nummer ein.
»Ich bin’s«, sagte er, als sich am anderen Ende jemand meldete.
»Ich muss mit dir reden.«
Kapitel 45
Vor dem Antonelli’s am Hafen öffnete Brady die Wagentür und schlug Conrad vor, sich die Wartezeit zu vertreiben, indem er die letzten
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