Engelsgrube - Almstädt, E: Engelsgrube
geholfen. Tut mir Leid, dass du warten musstest.« Kläre ließ sich auf den ihr zugedachten Stuhl fallen.
»Wie geht es deiner Schwester, brütet sie schön?«
Kläre nickte. Bei dem Gedanken an Schwangerschaft und Kinder verdüsterte sich ihre Miene.
»Kläre, zieh nicht wieder so ein Gesicht. Deiner Schwester ist jetzt sowieso immer nur schlecht. Später wird sie fett, kriegt Krampfadern und zum Schluss so ein schreiendes Bündel, das ihr keine Zeit mehr für sich selbst lässt. Das will man doch nicht wirklich …«
»Hast ja Recht, Isa. Nur der Gedanke, dass ich wohl nie …«
»Ich weiß, ich weiß. Wir sind völlig verschieden. Du hast früher am liebsten in der Puppenecke gespielt und von deiner zukünftigen Familie geträumt, während ich in der Bauecke die Jungs verkloppt oder Waschpulver in den Brunnen vor dem Kindergarten gekippt habe.«
Bei der Erinnerung an den schäumenden Brunnen und das damit verbundene Aufsehen lächelte Kläre. Genauso war es immer gewesen mit Isabel. Sie erinnerte sich plötzlich wiederan den Tag, an dem sie ihre Freundin zum ersten Mal gesehen hatte.
Ihre ersten Stunden im Kindergarten hatte Isabel damit verbracht, in der Ecke zu sitzen und herzerweichend und vor allem untröstlich zu heulen. Als ihr klar geworden war, dass sie damit nichts ausrichten konnte, war sie allein in den Waschraum gegangen, hatte ihr Gesicht gewaschen, eine hochmütige Miene aufgesetzt und das Beste aus ihrer neuen Situation gemacht. Sie hatte eine halbe Stunde lang alle Kinder in der Gruppe beobachtet und sich dann ihr, der ruhigen, etwas älteren Kläre angeschlossen. Dabei war es geblieben.
Kläre erinnerte sich, dass Isabel damals zu den wenigen Kindern gehört hatte, die bis zum späten Nachmittag im Kindergarten bleiben sollten. Das passte ihr aber ganz und gar nicht. Sie hatte daraufhin an den nächsten Tagen ausgiebig protestiert, wenn Frau Tensfeld ihre Kläre mittags abholte. Kläres Mutter bot darum an, Isabel ebenfalls mitzunehmen. Es war schnell zu einer festen Einrichtung geworden, dass Isabel die Nachmittage bei den Tensfelds verbrachte statt im Kindergarten. Anfangs hatte es für alle so ausgesehen, als suche die zarte, jüngere Isabel Trost und Schutz bei ihrer neuen Freundin. In Wahrheit aber war es umgekehrt gewesen. Isabel beschützte Kläre. Sie kümmerte sich um die ältere Freundin, trat für sie ein und bestimmte für sie. Es war eine hervorragend funktionierende Beziehung, weil jede der anderen etwas gab, was sie selbst nicht hatte. Und diese Freundschaft hatte ihre gemeinsame Schulzeit überdauert.
All das schoss Kläre durch den Kopf, während sie Isabel betrachtete. Sie hatte sich seit damals, von ein paar unbedeutenden Zentimetern Körperlänge und dezenten weiblichen Geschlechtsmerkmalen abgesehen, kaum verändert.
Doch die letzten Jahre kreuzten sich ihre beiden Lebenswege seltener. Isabel verbrachte viel Zeit mit zwei Freunden aus der Schulzeit, die Kläre nie hatte ausstehen können. Kläre dagegen hatte vor ein paar Monaten eine langjährige Beziehung zu einem verheirateten Mann beendet und die Trennung immer noch nicht ganz verwunden. Eine kurze, folgenreiche Affäre danach hatte dazu beigetragen, dass Kläres Leben aus den Fugen geraten war. Sie hatte sogar ihre Ausbildung als Krankenschwester abgebrochen.
Ein Schicksal, das sie entfernt mit Isabel teilte, die zwei Jahre lang als Stewardess gearbeitet hatte, bis man einen Herzfehler bei ihr diagnostizierte. Fliegen durfte sie nicht mehr, und zum Bodenpersonal gehen wollte sie nicht. Während Isabel davon träumte, Schauspielerin zu werden, hatte Kläre sich in das Unabänderliche gefügt und eine neue Ausbildung als Industriekauffrau begonnen. Den Alltag in einem Büro, zwischen Aktenbergen und Computerbildschirmen, ertrug sie wie eine verdiente Strafe für ihre eigene Dummheit.
»Wie geht es dir?«, fragte Isabel unvermittelt und sah Kläre forschend an. Isabel war einer der wenigen Menschen, denen Kläre sich anvertraut hatte, die »es« wussten.
Kläre schien die Frage nicht zu behagen, und sie sah zur Seite. »Momentan relativ gut. Manchmal ist mir übel oder mir wird schwindelig von dem Zeug, das ich nehmen muss.«
»Du musst gar nichts, du bist nicht krank, Kläre. Diese Scheißärzte bei dir in der Klinik …«
Bevor sich Isabel weiter ereiferte, sagte Kläre ablenkend: »Weißt du, wen ich neulich getroffen habe, Isa? – Thomas, mit seinem Sohn …«
»Ja und?«
»Ach, er hat mich gegrüßt
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