Engelsgrube - Almstädt, E: Engelsgrube
aufzustellen. Die Zeugen können alle im Treppenhaus auf ihre Befragung warten. Das scheint mir recht geräumig zu sein.«
»Befragung im Adlersaal, wie nobel …«, griente Gerlach.
Eine Viertelstunde später ließ sich Pia Korittki an einem der Schreibtische nieder, die man zu diesem Zweck eilig in den historischen Adlersaal des Kanzleigebäudes geschafft hatte. An den Nebentischen saßen ein paar andere Kollegen, nur abgeschirmt von halb hohen Trennwänden. Durch die vielen Menschen, die sich plötzlich in dem Gebäude befanden, ging es laut und hektisch zu.
Unter den finster aussehenden gemalten Wappenadlern,die von der Saaldecke auf sie herabblickten, befragte Pia unzählige Zeugen. Sie hörte in den folgenden Stunden immer wieder die Worte: »Ich habe gar nichts gemerkt, bis …«, und die unterschiedlichsten Ausführungen: »… die Frau am Boden lag – … jemand neben mir aufschrie – … mein Nachbar mich darauf aufmerksam machte«, und so fort.
Je mehr Menschen ihr versicherten, keinerlei hilfreiche Beobachtungen gemacht zu haben, desto unbehaglicher wurde Pia zumute. Sicher, die Musik war sehr laut gewesen, und es hatte ein großes Gedränge geherrscht. Trotzdem fand sie es erschreckend, dass diese Frau, fast unbemerkt von allen Umstehenden, dort so hatte sterben müssen.
Um halb zwei Uhr nachts hatte sich die Schlange der Wartenden im Treppenhaus des Kanzleigebäudes aufgelöst. Pia schob einen Stapel Papiere zusammen und unterdrückte ein Gähnen. Broders stemmte sich von seinem Stuhl hoch und rieb sich das Kreuz.
»Na, das war doch ein Freitagabend, wie wir ihn alle lieben …«, bemerkte er. Er ging ans Fenster und versuchte, durch die bleiverglasten bunten Fensterscheiben hinauszusehen. Es war stockdunkel draußen. Sogar die großen Scheinwerfer, die bis vor kurzem den Tatort ausgeleuchtet hatten, waren ausgeschaltet worden. Die Menschenansammlung in der Fußgängerzone hatte sich längst zerstreut.
Die anderen Kollegen im Adlersaal entließen ebenfalls ihre letzten Zeugen, und mit einem Schlag war es so ruhig im Raum, dass man hören konnte, wie das Holzparkett unter Broders schweren Schritten knarrte.
»Ich geh gleich noch ein Bier trinken, kommt einer mit?«, fragte Michael Gerlach, doch keiner der Kollegen reagierte.
»Ist der Zauber hier denn schon vorbei?«, fragte Pia, »keine Einsatzbesprechung mehr heute?«
» Heute ist schon lange vorbei. Wilfried hat die nächste Besprechung für acht Uhr früh angesetzt. Der wird sich in der Zwischenzeit ein paar Gedanken über unser weiteres Vorgehen machen müssen.«
»Ein Mist, dass Gabler nicht da ist …«, bemerkte Marten Unruh. Alle schwiegen einvernehmlich.
»Also, ich hau jetzt ab!«, sagte Broders und griff nach seiner Jacke.
In diesem Moment betrat Wilfried Kürschner den Raum. Sein kariertes Freizeithemd war ein Stück weit aus der hellen Jeans gerutscht. Mit den braunen Ledersandalen an den grau bestrumpften Füßen wirkte er hilflos. Sein Blick wanderte unstet zwischen den noch anwesenden Kollegen hin und her.
»Wenn ihr mit den Leuten hier durch seid, könnt ihr gehen. Ich werde das Gebäude abschließen und den Schlüssel zurückbringen. Draußen ist alles so weit erledigt. Wir sehen uns morgen früh um acht Uhr im Kommissariat.«
Gerlach schien es plötzlich sehr eilig zu haben und hastete mit einem kurzen Gruß aus dem Raum.
»Wer vertritt eigentlich die unhaltbare These, dass vernünftige Arbeit unbedingt morgens um acht beginnen muss. Neun oder halb zehn wäre doch auch okay«, beschwerte sich Heinz Broders. Er stand immer noch mit seiner Jacke in der Hand da.
»Bis morgen, Heinz! Angenehme Nachtruhe!«, rief Kürschner ihm zu.
Broders’ Antwort klang nach einem genervten »Du mich auch …«
Kürschner schien jedoch nicht mehr die Kraft zu haben,sich darüber zu ärgern. Er nickte Pia und Marten Unruh zu, als sie ebenfalls Anstalten machten, den Raum zu verlassen, und ließ sich auf einen der gepolsterten Stühle fallen.
»Dieser Fall scheint ihm zuzusetzen«, bemerkte Pia, als sie draußen unter den Arkaden standen. Sie verschränkte frierend die Arme vor der Brust. Bei ihrem eiligen Aufbruch vorhin hatte sie vergessen, eine Jacke oder einen Pullover mitzunehmen.
»Ich glaube, er hat auch private Sorgen«, meinte Marten leise, »seine Frau ist krank, seit längerem schon. Da hat ihm so eine Aufsehen erregende Sache hier wahrscheinlich gerade noch gefehlt.«
»Ich hätte nie
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