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Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd

Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd

Titel: Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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Efeu bewachsen. Asâêl mochte ihren Duft und das Rascheln der Blätter. Er lauschte dem Flüstern der kleinen Flügel. Hunderte, Tausende, unendlich viele. Sein Geist war ihr Geist, er durchwirkte sie und sah durch ihre Augen, lauschte durch ihre Sinne und spürte die Furcht, die sie spürten und die verbotene Faszination, wenn sie sich einer Flamme näherten.
    Sie suchten für ihn. Mitternachtssamt.
    Er erinnerte sich.
    An eine Frau, die er geliebt hatte. So sehr, dass er alles für sie riskierte, die Rache seines Herrn, den Hass der anderen. Er schenkte ihr die Ewigkeit, ein kostbares Geheimnis, das allein den himmlischen Scharen vorbehalten war. Denn die Vorstellung, dass sie sterben und er weiterleben könnte, brach ihm das Herz.
    Nachtfalter ruhten auf seinem Haar und den Spitzen seiner Flügel. Wann immer er sich regte, erhoben sie sich flüsternd und ließen sich neu auf ihm nieder, wie Blumen aus schwarzem Samt.
    Die Schönheit der Frau, ihr Liebreiz, ihre Klugheit hielt ihn ganz und gar gefangen. Doch nach einiger Zeit erkannte er, welch einzigartiges Geschenk in der Sterblichkeit lag. Wie kostbar sich jeder einzelne Herzschlag anfühlte, wie teuer die Jugend und Schönheit, wenn sie vergänglich war. Er hatte sich eine ewige Gefährtin erschaffen, doch etwas starb zwischen ihnen. Es geschah nicht sofort, eher langsam, wie ein Salzsee, der jedes Jahr ein wenig sinkt. Und noch etwas brachte die Unsterblichkeit mit sich. Etwas, das er zuvor nicht gewusst hatte und das sich nun als Fluch entpuppte. Verzweifelt wünschte seine Gefährtin sich ein Kind, einen Beweis ihrer Liebe, doch mit ihrer Sterblichkeit hatte sie auch die Fähigkeit verloren, Nachkommen zu gebären.
    Asâêl starrte hinab in die Lichter. Ein Käfig aus Schmerz umspannte seine Brust. Die Risse in seiner Erinnerung quälten ihn. Doch nun, da sie heilten, linderte das nicht das Leid. Es waren die Erinnerungen, in denen der Schmerz lebte, nicht die Brüche dazwischen.
    Er erinnerte sich an die Frau mit den schwarzen Augen, warm wie Honig, tief und klar. Zwei Spiegel, in denen ein Mann sich verlieren konnte. Eine Sterbliche. Eine Prinzessin unter Ihresgleichen. Ihre Haut schimmerte wie Kakao. Goldstaub glänzte auf ihren Wangen und den Handflächen und dem Ansatz ihrer Brüste.
    Er erinnerte sich an den Aufruhr in seinem Inneren, als sie zum ersten Mal das Lager teilten, diese Explosion aus Begierde, Schuld und unsäglicher Freude. Und an den Moment reinen Glücks, als er das Leben spürte, das in ihr wuchs.
    Sein Sohn.
    Sein Blut.
    Die Flügel der Nachtfalter rieben gegeneinander wie auffrischender Wind. Sie teilten seinen Gedanken, den Genuss, das Glück, die Trauer. Eine Frau wie Mitternachtssamt. Nachdem ihre Zeit gekommen war, lebte sie weiter in seinem Herzen, seiner Erinnerung, in den Augen seines Sohnes, dem das Geschenk eines ewig jungen Körpers als Geburtsrecht gewährt war.
    Mein Sohn.
    Ich habe einen Sohn.
    Asâêl schloss die Augen. Wie hatte er das vergessen können? Es war ein Teil seiner Bestrafung, das verstand er nun. Sie hatten seine Erinnerungen zerschlagen, sein Wissen um alles, was ihm einst lieb und teuer gewesen war. Die Motivation für seine Taten, den Grund für die Rebellion. Wie hatte er es geschafft, nicht den Verstand zu verlieren in tausend Jahren Dunkelheit?
    Er musste ihn finden. Er musste unbedingt seinen Sohn finden.

    Die Digitalanzeige in seinem Pick-up stand auf fünf Uhr vierzehn, als Gabriel endlich die verdammte Straße fand, nachdem er sich in einem Labyrinth aus Nebenstraßen und Sackgassen verirrt hatte. Voller Erleichterung erkannte er die schäbige Apartmentanlage mit den rosa gestrichenen Wänden, die sich von Staub und Abgasen längst grau gefärbt hatten. Er parkte seinen Pick-up direkt vor der Kirche der Chinesischen Einheit vor Gott. Beim Aussteigen musterte er die Leuchtreklame ein zweites Mal, nur um sicherzugehen, dass er sich nicht verlesen hatte. Kirche der Chinesischen Einheit vor Gott. Wow. Hieß das, die ließen nur Chinesen rein? Der Gedanke amüsierte ihn außerordentlich. Er kicherte, stieg über die kniehohe Umgrenzung in den Vorgarten und blieb mit einem Fuß in Fliedersträuchern hängen, die die Innenseite des Mäuerchens säumten. Mit einem Fluch stürzte er auf ein Knie, fing sich mit den Händen und rutschte ein Stück über das Gras.
    Irgendwo raschelte etwas, ein kleines Tier oder ein Vogel, den er aufgescheucht hatte. Er drehte sich um und begutachtete das Hindernis, das

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