Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd
Decke um ihren Geist, wärmte sie und dämpfte alles andere zu fernem Hintergrundrauschen.
Mondschein tauchte das Innere des Wagens in kalte, blaue Farben. Während Gabriel sich auf den Weg konzentrierte, fand Violet zum ersten Mal Zeit, ihn genauer zu betrachten. Ihr Blick glitt über seine schlanken, kräftigen Handgelenke, die langen Finger und wanderte wieder aufwärts zu seinem Gesicht. Sein Profil war scharf und schön geschnitten, dichtes Haar reichte ihm bis auf die Schultern. Wangen und Kinn waren von Bartstoppeln bedeckt, die ihn aber nicht verwahrlost erscheinen ließen, sondern maskulin.
Hitze stieg ihr ins Gesicht, als sie sich ertappte, dass sie ihn attraktiv fand. Was war das, eine neue Spielart des Stockholm-Syndroms? Sie biss sich auf die Lippen und zwang sich, geradeaus aus dem Fenster zu sehen. Ein Schauder lief ihren Nacken hinunter, als sie sich vorstellte, dass sie und dieser Mann in seiner einsamen Blockhütte in der Wüste – was genau anstellen würden? Sie schluckte. Die Wunden versorgen, duschen und ein paar Stunden schlafen. Was sonst?
„Warum?“, fragte er plötzlich.
Sie schrak auf. „Warum was?“
„Warum hast du mich da rausgeholt?“
„Zufall.“ Sie verspürte das idiotische Bedürfnis, zu kichern und hatte Mühe, den Laut zu ersticken. „Ich war auf der Suche nach meiner Schwester. Dann tauchte jemand im Gang auf und ich musste mich verstecken. Der einzige Weg führte in den Keller.“
„Deine Schwester?“
„Lange Geschichte.“
Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu.
„Ich bin Privatdetektivin. Meine Schwester ist verschwunden. Ich ermittle gewissermaßen in eigener Sache.“
„Auf Matavilya Crest?“
„Das war meine beste Spur.“ Sie zuckte mit den Schultern und sog im gleichen Moment scharf die Luft ein, weil neuer Schmerz in ihren Ellbogen schoss. „Ich dachte, das sind fromme Brüder. Wenn ich gewusst hätte, dass sie ...“, sie führte den Satz nicht zu Ende. „Weißt du etwas über die Sekte? Warum haben die dich dort festgehalten?“
Gabriel antwortete nicht. Auch gut. Vielleicht war er morgen früh ja gesprächiger. Mit einem Mal wurde ihr der ganze Irrwitz der Situation bewusst. Sie begleitete einen wildfremden Mann, der eigentlich tot sein sollte, in sein Haus mitten in der Wüste und alles, was sie miteinander verband, war die gemeinsame Flucht. Sie wusste nichts über ihn. Vielleicht war er ein Psychopath, der Frauen in seinen Unterschlupf lockte, um ihnen die Haut abzuziehen und Taschen daraus zu nähen?
Unsinn. Sie sah Gespenster. Wie wahrscheinlich war es, dass er sich im Heizungskeller eines Sektenhauses mitten in der Wüste ankettete, damit seine Opfer ihn befreien und auf diese Weise Vertrauen zu ihm fassen konnten? Ihre Fantasie ging mit ihr durch, nichts weiter. Falls es sein Plan war, sie zu vergewaltigen und in Stücke zu schneiden, hätte er das einfacher haben können. Andererseits: War es nicht gerade das, was Psychopathen ausmachte? Aberwitzige Gedankengänge, die ein normaler Mensch nicht nachvollziehen kann?
Inzwischen fuhren sie wieder auf einem Schotterweg. Die Lichter des Highways waren nicht zu sehen. Verstohlen zog sie ihr Handy hervor und kontrollierte den Empfangsbalken. Nichts. Nicht das schwächste Signal.
„Hier draußen funktioniert nur Satellitentelefon“, sagte Gabriel. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Mach dir nicht so viele Sorgen. Mein Angebot entspringt reiner Höflichkeit.“
Blut schoss ihr ins Gesicht. „Habe ich so laut gedacht?“
„Es kreist in Großbuchstaben über deinem Kopf.“ Er lächelte schwach. „Du fragst dich die ganze Zeit, ob ich ein Serienkiller bin und ob du es schaffst, nach deiner Pistole zu greifen, bevor ich es bemerke.“
„Tue ich das?“ Sie kam sich vor wie ein Idiot. Gabriel war ein anderes Kaliber als Mister Knoblauchhühnchen. Der Mann war intelligent und schlagfertig. Und nun, da er auf geheimnisvolle Weise von seinen Wunden genesen war, umgab ihn plötzlich mehr als ein Hauch von Gefahr. Das war die Aura eines Jägers, nicht der Beute.
Gabriel bremste und bog in eine Sandpiste. „Wir sind gleich da.“
Ein Viehzaun tauchte im Mondlicht auf, ein Brunnen, schließlich ein Hof mit mehreren Gebäuden. Er lenkte den beschädigten Wagen hinter das Wohnhaus, parkte ihn neben einem staubigen Pick-up und stieg aus. Die plötzliche Stille klang wie Kanonendonner in Violets Ohren.
Kies knirschte unter ihren Schuhen und dann das dumpfe Echo der Holzbohlen,
Weitere Kostenlose Bücher