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Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd

Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd

Titel: Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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ruhig. Niemand tauchte plötzlich von der anderen Seite der Brücke auf. Keine Rufe, keine Schüsse.
    „Du hast dir was eingebildet.“
    „Wahrscheinlich schleichen sie sich genau in diesem Moment an“, murrte er ohne rechte Überzeugungskraft.
    „Schalte die Lampe wieder an.“
    Grummelnd gehorchte er. Sie entfernte die Kette und stopfte das Vorhängeschloss in ihren Rucksack. Nicht, dass doch noch jemand vorbeikam und das Ding wieder verriegelte. Dann zog sie die Luke auf. Ein dünner Geruch nach Chemikalien drang in ihre Nase.
    „Gib mir die Taschenlampe“, forderte sie. Ihre Schritte hallten hohl in dem Betonrohr. Es ging abwärts, aber nicht übermäßig steil. Der Chemiegeruch wurde stärker. Kurz blickte Violet über die Schulter.
    „Habe ich erwähnt“, keuchte Marshall, „dass ich Platzangst habe?“
    „Das erwähnst du andauernd.“ Bedächtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. „Pass auf, wo du hintrittst.“
    In unregelmäßigen Abständen saßen runde Gitter in der Wand. Das Rauschen über ihren Köpfen klang nun gedämpft. Das Rohr endetevor einem quadratischen Trittbrett, das in der Luft zu schweben schien, sich bei näherer Betrachtung aber nur als Plattform auf Stahlträgern herausstellte. In der Mitte war ein Durchstieg ausgeschnitten, von dem eine Leiter in die Tiefe führte.
    „Hier geht’s runter.“ Violets Stimme hallte von den Wänden wider. Sie leuchtete in die Dunkelheit. Der Lichtkreis enthüllte eine Ziegelwand und eine gewölbte Decke. Eine Symphonie neuer, ungewohnter Geräusche hüllte sie ein. Wassertropfen, leises Schaben, quietschende Geräusche wie von einer vielteiligen Mechanik. Sie schob die Taschenlampe in ihren Gürtel und tastete mit dem Fuß nach der ersten Trittleiste.
    „Dann los“, sagte sie zu Marshall. Unter ihren behandschuhten Händen bröckelten Rost und Sand. Sie hatte Mühe, sich mit ihrem Rucksack durch die Öffnung zu quetschen. Der Gedanke, dass VORTEC die Leichen praktisch entsorgt haben könnte, indem sie diese von der Plattform stießen, ließ sie schaudern. Wer wusste schon, was da unten auf sie wartete? Aber dann würde es hier grauenhaft stinken. Richtig, Schätzchen. Nach Chemikalien zum Beispiel, um den Verwesungsprozess zu beschleunigen.
    Von irgendwo drang ein Klappern an ihr Ohr, ein dumpfer Laut, der sie innehalten ließ. War das von oben gekommen?
    „Hast du das gehört?“, hallte Marshalls Stimme zu ihr herunter.
    „Bleib dicht an mir dran.“ Ihre Stimme schallte hohl von den Tunnelwänden zurück. Egal, was es war, sie wollte es nicht herausfinden, während sie auf dieser Leiter stand. Sie kletterte schneller, erreichte endlich die letzte Sprosse und landete platschend auf den Steinen. Das Wasser auf dem Boden stand zwei Finger hoch. Sie griff wieder nach der Taschenlampe und leuchtete die Umgebung ab. Das war ein gewöhnlicher Abwassertunnel, ziemlich geräumig und so hoch, dass sie aufrecht stehen konnte. Marshall fluchte hemmungslos, als er bei der Landung mit dem Fuß umknickte und sich den Strumpf mit kaltem Wasser vollsog.
    „Wo geht es lang?“
    Er machte eine Show daraus, seinen handgezeichneten Plan aus dem Rucksack zu ziehen. Sorgfältig entfaltete er das Papier und hielt es unter ihre Lampe.
    „Wir sind ungefähr hier.“ Marshall tippte auf einen Wirrwarr von Linien. „Wir stehen im Quertunnel. Irgendwo im hinteren Teil befindet sich die Blindmauer. Wir werden es sehen, wenn wir davorstehen.“
    „Okay. Rechts oder links?“
    „Rechts.“
    „Sicher?“
    Entnervt stieß er den Atem aus. „Im Gegensatz zu dir kann ich links und rechts auseinanderhalten.“
    Sie hob eine Augenbraue, erwiderte aber nichts. Marshall war gereizt, weil sie ihn zu ein bisschen Feldrecherche zwang. Noch dazu in einem stinkenden Loch, in dem sie jeden Moment von Riesenratten überwältigt werden konnten. Sie musste sich zusammenreißen, um ein Kichern zu unterdrücken.
    Am Rand des Tunnels war die schwarze Brühe genauso tief wie in der Mitte. Nach ein paar Schritten nahm Violet es hin, dass bei jedem Schritt Wasser in ihre Schuhe sickerte. Vielleicht wären Gummistiefel die klügere Wahl gewesen. Sie passierten eine Reihe kleinerer Rohre. An der Decke kondensierte Feuchtigkeit. Violet zuckte zusammen, als ein eisiger Tropfen sie in den Nacken traf.
    „Gemütlich hier“, konstatierte Marshall hinter ihr.
    Der Strahl der Taschenlampe stach wie eine Klinge in die Dunkelheit und hinterließ Reflexe auf den feuchten Steinen, ohne

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