Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd
einer beginnenden Transformation, doch mangelte es ihnen an Kraft. Wie eine schwache Tide rollten sie über ihn hinweg, Wellen, die im Schlamm erstickten. Bei dem Versuch, sich aufzurichten, stieß er mit dem Kopf gegen ein Hindernis. Sie hatten ihm die Hände auf den Rücken gefesselt. Geräusche und rüttelnde Bewegungen drangen in sein Bewusstsein und er begriff, dass er im Kofferraum eines Wagens eingesperrt war. Heftig riss er an seinen Fesseln, doch sie schnitten ihm nur in die Handgelenke. Seine Schultern brannten wie Feuer. Übelkeit ließ seinen Kopf schwimmen.
Er krachte gegen die Rückbank, als der Wagen abrupt bremste. Sekunden später flog die Kofferraumklappe auf und Licht blendete ihn. Zwei Männer packten ihn an den Armen und zogen ihn aus dem engen Gefängnis. Sie schleppten ihn ein Stück die Straße hinunter und stießen ihn gegen ein Betongeländer. Vergeblich versuchte er, sich aus dem eisernen Griff seiner Scharfrichter zu befreien. Er erfasste Asphalt und einen stahlgrauen Himmel, der sich abrupt wegdrehte, als er den Boden unter den Füßen verlor. Seine Glieder versagten ihm den Dienst.
„Willst du wissen, wo wir sind, Arschloch?“, fragte eine Stimme.
„Riverside Rancho“, sagte der andere. „Da, wo unsere Leute verschwunden sind.“
Gabriels Hüfte schrammte gegen den Stein, eine Faust packte sein Haar und zwang seinen Kopf hoch. Farblose Augen starrten ihn an.
„Niemand stellt sich gegen die Garde.“
Bosheit schwang im Lachen des anderen.
„Vielleicht finden sie dich ja?“
„Wenn du lange genug lebst?“
„Dann findest du ganz schnell heraus, was sie mit deinem Vater gemacht haben.“
„Dann kannst du ihm in der Hölle Gesellschaft leisten.“
Der Sturz von der Brücke schien ewig zu währen. Sein Geist flog wie losgelöst von seinem Körper. Bilder glitten vorüber: Thomasz, eine Bibliothek, die Nächte in Prag. Schlachten, in denen Mordgier über Menschlichkeit triumphierte. Blut und Tod und Scheiterhaufen, auf denen sie die Leichen verbrannten. Der Drachenring, Lohn für eine Gefolgschaft, in die er schon lange den Glauben verloren hatte. Katherinas makelloses Gesicht, das ihre wahre Natur verbarg. Carl mit der weichen Stimme eines Philosophen. Emily, die verstört seinem Blick auswich, bevor sie floh. Violet. Er dachte an Libellen und an ihr schwarzes Haar, das sich wie Seide anfühlte. Ihr Antlitz legte sich über die anderen Gesichter, wie ein Film, der an Leuchtkraft gewinnt. Er konnte nicht fort, ohne sie wiederzufinden. Er konnte nicht. Sein Geist bäumte sich auf. Ihr Name brannte ihm auf den Lippen.
Der Aufprall kam abrupt und trieb eine Woge der Qual durch seinen geschundenen Körper. Ein Teil von ihm wusste, dass seine Arme und Beine gebrochen waren. Er verlor Violets Antlitz für einen Moment, dann fand er es wieder und klammerte sich daran fest, während Wasser seine Kleider und sein Haar tränkte und ihn träge mitzog. Flussabwärts, unter die Brücke. Zwischen eine Reihe von Steinen. Tiefer in die Dämmerung der Kanäle. Tief in die Dunkelheit.
Violet telefonierte mit dem Power : Water Department, doch die Unterlagen der Behörde passten nicht zu Marvs Story. Unter der Brücke war zwar ein Einstieg verzeichnet, der führte allerdings nur zu einem Wartungstunnel für die Abflussrohre, die entlang der 134 in den L.A. River mündeten. Die Dame von der Wasserversorgung erklärte, dass das Netz erst vor ein paar Jahren neu kartografiert worden war und sich ältere Unterlagen wahrscheinlich in der Public Library, der öffentlichen Bibliothek der Stadt, finden ließen.
Nach weiteren Telefonaten und einigen Stunden Onlinerecherche wurden sie schließlich fündig. Violet fuhr zur Hauptzweigstelle inDowntown, einem wuchtigen Bau, der aussah, wie eine assyrische Stufenpyramide. Sie ließ sich die Zeichnungen aus dem Archiv heraussuchen und machte Kopien.
Marshall verbrachte den Nachmittag damit, die verschiedenen Versionen der Pläne abzugleichen und alte Bauberichte zu durchstöbern, während Violet die Ausrüstung besorgte, die sie für ihren Ausflug in die Kanäle brauchen würden. Sie hatte keine Ahnung, was sie hinter dem Kanaldeckel, den Marv beschrieben hatte, finden mochten. Sie wusste ja nicht einmal, wonach sie eigentlich suchten.
Kurz vor acht präsentierte Marshall ein kariertes Blatt, das mit einem Wirrwarr handgezeichneter Linien bedeckt war. Er war sichtlich stolz auf sein Werk.
„Es gibt einen Abschnitt, der nach dem Bau der Interstate 5
Weitere Kostenlose Bücher