Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd
verursachten einen prickelnden Schauder. Sie küsste seinen Finger, der noch immer auf ihrem Mund lag. „Ich habe die ganze Zeit nicht aufgehört, an dich zu denken.“
Als die Worte draußen waren, hätte sie diese am liebsten zurückgenommen. Doch dann schürzte sie trotzig die Lippen. Warum sollte sie nicht aussprechen, was die Wahrheit war?
„Ich auch nicht“, sagte er.
Es klang wie von weit her. Sie hatte das Gefühl, auf einer Glasbrücke zu stehen. Beide hatten sie sich entblößt, sich verletzlich gemacht. Es war ein kostbarer Augenblick. Sie musste sehr vorsichtig sein, um den magischen Schleier nicht zu zerreißen.
„Sagst du mir, wie ich hierhergekommen bin?“
Er umschlang ihre freie Hand und führte sie zu seinen Lippen. Ihr stockte der Atem, als seine Zunge um ihren Ringfinger spielte. „Du warst sehr schwer verletzt. Gestern Nacht ...“ Sie hatte Schwierigkeiten, sich auf ihre Worte zu konzentrieren, während er nacheinander ihre Finger in den Mund nahm. „Es war reiner Zufall. Ich bin mit einem Kerl aneinandergeraten, Keith — ich nehme an, du kennst ihn. Wir sind in den Kanälen übereinander gestolpert. Er hatte dich wohl gerade aus der Kloake gezogen.“
„Keith?“ Gabriel hielt inne, ihre Finger zu küssen. Sie konnte förmlich spüren, wie sein Geist sich spannte.
„Groß und schlank, sehr junges Gesicht, sieht aus wie ein Philippino. Glattgeschorener Kopf.“
„Was ist passiert?“
Sie drehte den Kopf, um sein Gesicht zu sehen. „Ich habe ihn mit meiner Pistole bedroht, er hat mich niedergeschlagen und dann haben wir herausgefunden, dass wir beide nur um dein Wohl besorgt sind. Zum Glück, bevor wir uns gegenseitig umbringen konnten.“
Ein Lachen gluckste tief in seiner Kehle.
„Keith hat mir klargemacht, dass meine Tage gezählt sind, wenn ich mich nicht aufopfernd um dich kümmere.“
„Und du warst so eingeschüchtert, dass du ihm gehorcht hast?“
„Ich hatte Angst um dich“, sagte sie. Das Entsetzen der letzten Nacht stieg in ihr auf, das Gefühl von Hilflosigkeit vor seinem blutleeren Gesicht. „Ich dachte, dass ich deinen Tod nicht ertragen könnte. Und als dann diese Transformation ...“ Sie stockte. „Gabriel, was ist eine Transformation?“
Er schwieg so lange, dass sie schon glaubte, er würde ihre Frage nicht mehr beantworten. „Es hat mit unserem Blut zu tun“, sagte er endlich. „Das Erbe unserer Stammväter, der gefallenen Engel. In den Erstgeborenen fließt es am stärksten, aber selbst in fünfter oder sechster Generation ist es noch mächtig genug. Das Blut hat überragende Heilkräfte. Wenn ich verletzt werde, heilt mein Körper. Diesen Prozess bezeichnen wir als Transformation.“
„Das scheint nicht sehr angenehm zu sein.“
„Es fühlt sich an, als würde man innerlich auseinandergerissen. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil es eine gewaltsame Umwandlung ist. Einen menschlichen Knochen zu heilen, dauert Monate. Bei uns sind es Minuten. Das Blut zerstört die beschädigten Teile und bildet sie neu.“
„Klingt schaurig.“
„Je schwerer die Wunde, desto schlimmer die Transformation. Stell es dir vor wie eine Wiedergeburt. Keine Geburt ohne Schmerzen.“ Er drückte leicht ihre Hand.
„Also bist du unsterblich?“ Wie bizarr das klang.
In seinem Lachen schwang ein Hauch Bitterkeit. „Nein. Man kann uns enthaupten oder in die Luft sprengen. Oder uns so schwer verwunden, dass nicht genug Blut übrig bleibt, um eine Transformation auszulösen.“
„Gabriel?“
Er hob den Kopf.
„Das gestern Nacht war knapp, oder?“
„Willst du die Wahrheit hören?“ Er seufzte. „Ich dachte, ich kehre nicht mehr zurück.“
Emily starrte auf den verkrümmten kleinen Körper zu ihren Füßen. Die Haare der Frau lagen ausgebreitet auf den Fliesen wie eine schwarze Blume. Emily hatte ihr vertraut.
Doch die Schlampe hatte sie hintergangen und verkauft. Sie hatte ihre Strafe verdient. Es war ein gerechter Tod.
Warum kratzte dann das Grauen an ihr, wie Fingernägel unter einer verschlossenen Tür? Emily wich an die Wand zurück und wischte sich die Hände an der Hose ab. Immer wieder rieb sie die Handflächen über den Stoff, als klebe noch Blut an ihren Fingern. Sonnenlicht fiel durch die großen Küchenfenster und fing sich auf der Messerklinge, die neben der Frau auf den Kacheln lag. Die Blutpfütze unter dem Körper wurde größer und begann, in den Teppich zu fließen. Der metallische Geruch riss ein Gefühl von Dringlichkeit in
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