Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd
erzählt habe.“ Sie verstand nicht, warum seine Augen sich verengten. „Das, was mir Emilys Freundin gegeben hat.“
Gabriel fuhr mit einem Daumennagel unter die halb ausgelaufene Kapsel. Er roch daran, dann führte er sie an die Lippen, um davon zu kosten.
„Nicht!“, fuhr sie auf. „Das ist ...“
Sein Gesichtsausdruck ließ sie verstummen. Er schloss die Augen und probierte mehr davon. Die Luft schien sich um einige Grade abzukühlen. Als er sprach, war seine Stimme heiser.
„Wo kommt das her?“
„VORTEC.“ Sie fühlte sich ausgeliefert unter seinem Blick, wie bei einem Verhör, in dem sie von vornherein als Schuldige feststand. Was zur Hölle war das Problem? „Willst du die Verpackung sehen?“ Nur um das schreckliche Schweigen zu überbrücken, sprang sie auf und wühlte in ihrer Handtasche. Sie brachte die Pappschachtel mit den handschriftlichen Instruktionen zum Vorschein. „Stimmt was nicht damit?“
Ohne ein Wort brach Gabriel eine Kapsel aus der Silberfolie und zerbiss sie mit den Eckzähnen. Ein paar Tropfen der Flüssigkeit spritzten über sein Kinn.
Die Früchte des Teufels.
Sein Blick weitete sich. Ob der Inhalt den gleichen Rausch in ihm auslöste wie bei ihr? Vor ihrem geistigen Auge bildete sich die gespenstische Assoziation von Blut, das seine Zähne verschmierte.
„Sprich mit mir“, stieß sie hervor. „Ich bin nicht der Feind, okay?“
„Das soll ein Krebsmedikament sein?“ Gabriels Stimme klirrte.
„VORTECs neue Wunderwaffe. Sie stehen kurz vor der Zulassung.“ Mit wachsender Nervosität starrte sie ihn an.
Gabriel wischte sich die Spritzer vom Kinn. „Du hast keine Ahnung, was das ist?“
Sie schüttelte langsam den Kopf.
Nachtwind rollte die steilen Flanken der Berge hinauf, strich über die Schneereste auf den Kuppen und raschelte in dem feinen Flaum, der Asâêls Flügel bedeckte. Die Federn hatten wieder zu wachsen begonnen, im gleichen Maße, wie sein Bewusstsein sich ausdehnte und die lebendige Welt berührte. Er brauchte mehr Zeit.
Allmählich kehrten die Bilder zurück. Er erinnerte sich an die Augen einer Frau, an ihre Stimme, ihre milchweiße Haut. An ihre Liebe und ihren Hass, und wie das eine das andere auszulöschen drohte. Eine schwer greifbare Sehnsucht stieg in ihm auf, als sich die Farben verfestigten. Er lauschte in die Stadt zu seinen Füßen, doch seine Kraft reichte nicht aus, um einzelne Stimmen auszumachen.
Noch nicht.
Er brauchte mehr Zeit.
Am Rand seines Gesichtskreises regte sich etwas, ein schwarzer Schmetterling. Hier oben waren es nicht so viele, doch einige folgten ihm selbst hier herauf. Obwohl die Kälte ihnen den Tod bringen würde, schien er sie so heftig anzuziehen, dass sie ihren Selbsterhaltungstrieb vergaßen. Wie offenes Feuer.
Eine andere Erinnerung kam hoch, mehr ein Gefühl, als ein wirkliches Bild. Fleisch vom eigenen Fleische. Blut vom eigenen Blut. Ein Bruder? Ein Sohn? Er tastete tiefer, doch der Schleier wollte nicht weichen.
Die zehntausendjährigen Ketten hatten ihre Spuren hinterlassen. Er musste geduldig sein. Und so lauschte er und betrachtete seine Fußspuren im Sand und die Wolkenfetzen, die seine Flügel umhüllten, und wartete. Denn der Geist heilt langsamer als Fleisch und Knochen. Tiefe Wunden hatten sie ihm geschlagen. So tief, dass es ein Wunder war, dass er vom Wahnsinn verschont geblieben war. Diesem Gift, das die Echos tränkte, die noch immer vom Gestein dieser Welt widerhallten und davon zeugten, dass andere wie er einst ihren Abdruck hinterlassen hatten.
Der Schock war so heftig, dass das Blut aus Gabriels Fingern wich. Er starrte auf die kleine Kapsel, die so offensichtlich nach Blut roch, und konnte nicht begreifen, was da vor ihm lag. Obwohl er es wusste, tief in seinem Innersten. Er wusste, wie das Puzzle zusammenpasste, er wagte nur noch nicht, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Weil die Theorie zu abstoßend war und weil sie Löcher hatte, nicht alle Fragen beantwortete und mit dem Versprechen lockte, dass es vielleicht eine andere Erklärung gab. Eine, die weniger entsetzlich klang.
Er sah in Violets verstörtes Gesicht. Ihre Schultern waren angespannt, ihre Lider flackerten ein wenig. Sie musterte ihn wie einen tollwütigen Wolf, der jeden Moment angreifen konnte. Diese Erkenntnis versetzte ihm einen heftigen Stich. Er wollte nicht mit ihr kämpfen. Ich bin nicht der Feind, hallte ihre Stimme in ihm nach. Unbeholfen griff er nach ihren Händen. „Tut mir
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