Engelskraut
schleichend in mein Herz frisst. Wenn ich wie ein Roboter Dinge tun muss, die ich nicht mehr unter Kontrolle habe.
Meine Hände streichen die vernarbten Arme auf und ab. Etwas übermannt mich, gegen das ich mich nicht wehren kann. Was macht das schon, wenn ich zu den vielen Wunden eine weitere hinzufüge?
Zum Wer-weiß-wie-vielten-Male frage ich mich: Wer soll mich verstehen, wenn ich mich selbst nicht verstehe?
Ich gehe zum Computer und drücke auf den Knopf, auf dem ›Power‹ steht. Power. Macht.
Ich rufe meine Community auf, obwohl ich das gar nicht will. Weil mir das larmoyante Geseiere auf den Geist geht. Aber sie sind da, sie sind mir ähnlich, sie sind die Einzigen, die wissen, wovon ich spreche. Schrecklich zu lesen, wie Menschen sich selbst zerstören, wie sie sich selbst hassen und nach Aufmerksamkeit schreien.
Aber im Grunde tue ich nichts anderes.
Ich weiß, dass die Höllenbilder nur zu bändigen sind, wenn ich mich ablenke. Durch andere Schmerzen. Durch anderes Leid.
Diese Unruhe, die mich aufspringen lässt.
Warum bin ich kein Mann? Ein Mann weiß, was er tut. Richtige Männer sind tough, fühlen keinen Schmerz, weinen nicht. Männer stehen zu dem, was sie tun und getan haben, und grübeln nicht ständig, ob das nun richtig war oder falsch.
Nein, ich werde mich nicht unterkriegen lassen. Ich werde die Zähne zusammenbeißen und kämpfen. Wie ein Mann.
14
Es dauerte eine Weile, bis sich hinter der Tür etwas rührte. Sie befanden sich in der Bismarckstraße. Ein hübsches Einfamilienhaus in einem gepflegten Garten mit getrimmten Büschen und Bäumen.
Die Tür wurde nur einen Spaltbreit aufgeschoben, eine Kette war vorgelegt. Sichtbar war niemand. Nur ein Schatten.
»Frau Klaussner?«
»Wer ist da?«, antwortete eine dumpfe, müde klingende Stimme.
»Polizei. Dürfen wir reinkommen?«
»Es tut mir leid, ich bin noch nicht angezogen. Könnten Sie vielleicht später wiederkommen?«
»Frau Klaussner. Wir haben ein wichtiges Anliegen. Bitte öffnen Sie die Tür.« Hinterhubers Stimme klang derart lehrerhaft, dass man ihm einfach folgen musste.
Einen Moment herrschte Stille. Schließlich entgegnete Frau Klaussner: »Warten Sie einen Moment. Ich zieh mir schnell was über.«
Endlich ging die Tür auf. Sie standen einer Frau um die 30 gegenüber, mit verwuscheltem blonden Haar, trübem Blick und zerknitterten Gesichtszügen. Offenbar ging es ihr nicht gut. Und der Besuch war ihr sichtlich unangenehm.
»Entschuldigen Sie meinen Aufzug«, sagte sie und zog den Bademantel über ihrem Busen zurecht. »Ich hatte mich noch mal hingelegt, nachdem mein Sohn zur Schule gegangen ist.«
Sie kamen in ein total verrauchtes, aber geschmackvoll eingerichtetes und sonnendurchflutetes Wohnzimmer, an das ein Wintergarten mit üppigem Topfpflanzenbestand angrenzte. Auf einem hellen Ecksofa lagen einige Kissen und eine zerknüllte Decke. Auf dem niederen Glastisch standen eine leere Weinflasche, ein Weinglas und ein übervoller Aschenbecher.
Sofort hangelte Frau Klaussner mit zittrigen Händen nach ihrer Zigarettenpackung und zündete sich eine an. Nachdem sie tief inhaliert hatte, hielt sie Franca und Hinterhuber fragend die Packung hin, beide lehnten dankend ab.
»Frau Klaussner, es geht um Ihren Mann.«
Sie schien reichlich nervös zu sein. »Wenn Sie den sprechen wollen, haben Sie leider Pech.« Wieder nahm sie einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette und nickte bedächtig. »Er war heute Nacht nicht zu Hause.« Sie lachte bitter auf. »Er hat ja sein Zimmer in der Apotheke. Sehr praktisch«, äußerte sie mit Vorwurf in der Stimme. Gleichzeitig lag darin eine unendliche Traurigkeit. Es waren widersprüchliche Gefühle, die sie nach außen trug.
Franca musterte die Wand im Wohnzimmer, wo ein großes gerahmtes Foto hing, das eine lachende, sommerlich gekleidete und braun gebrannte Familie am Meer zeigte. Auf dem Foto wirkte Frau Klaussner sehr gepflegt, im Gegensatz zu ihrer jetzigen Erscheinung. Und Franca fiel aufs Neue auf, wie unglaublich gut ihr Mann aussah. Der Sohn war ungefähr 6 oder 7 Jahre alt.
Während sie Frau Klaussner beobachtete, wie sie nervös an ihrer Zigarette sog und hastig den Rauch wieder ausblies, hatte sie den Eindruck, als habe ihr Gegenüber lange keine Gelegenheit zum Lachen gehabt.
»Frau Klaussner, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann heute Morgen tot aufgefunden wurde.«
Franca sah Hinterhuber dankbar an. Er hatte nicht nur den richtigen Moment abgepasst, er
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