Engelslicht
Kirche relativ still. Luce war sich des Klackerns ihrer Reitstiefel auf dem Marmorboden unangenehm bewusst. In einer der kleinen Seitenkapellen, die hinter Eisengittern rechts und links des Chores lagen, stand eine Madonnenstatue. Die ausdruckslosen Marmoraugen der Madonna wirkten unnatürlich groß und ihre schmalen, betenden Hände überlang.
Luce konnte den Heiligenschein nirgendwo entdecken.
Schließlich stand sie am Ende des Langhauses in der Mitte der Kirche, wo der schwache Schein des Morgenlichts durch die Fenster fiel. Ein Mann in einer langen grauen Robe kniete vor einem Altar. Er murmelte leise einen lateinischen Gesang. Dies irae, dies illa. Luce erkannte die Worte aus ihrem Lateinkurs in Dover wieder, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, was sie bedeuteten.
Als sie sich dem Mann näherte, brach sein Gesang ab, und er hob den Kopf, als hätte ihre Gegenwart sein Gebet gestört. Sie hatte noch nie eine so blasse Haut gesehen. Sie wandte den Blick ab und ging nach links in das Querhaus, in das kürzere Schiff, das die Kreuzform der Kirche bildete, um dem Mann Raum zu geben …
Und sah sich einem Ehrfurcht gebietenden Engel gegenüber, der einige Meter über ihr aufragte.
Es war eine Statue aus glattem hellrosa Marmor und ganz anders als die Engel, die Luce inzwischen so gut kannte. Da war nichts von Cams grimmiger Vitalität, nichts von der unendlichen Komplexität, die sie an Daniel bewunderte. Dies war eine Statue, die von unerschütterlichen Gläubigen für unerschütterliche Gläubige geschaffen worden war. In Luce weckte der Engel keine Gefühle. Er schaute himmelwärts und sein marmorner Körper deutete sich unter den weichen Falten der Draperie über seiner Brust und Hüfte ab. Sein Gesicht war mit geübter Hand fein gemeißelt worden, von dem Rücken seiner Nase bis zu den winzigen Locken über seinem Ohr. Die Hände des Engels deuteten gen Himmel, als erbäte er Vergebung für eine vor langer Zeit begangene Sünde.
»Bon giorno.« Die Stimme ließ Luce zusammenfahren. Sie hatte den Priester in der schweren, bodenlangen, schwarzen Robe nicht kommen sehen, hatte die Sakristei am Rande des Querhauses nicht bemerkt, durch deren geschnitzte Mahagonitür der Geistliche soeben getreten war.
Er hatte eine schorfige Nase und große Ohrläppchen und überragte sie ein gutes Stück. Seine Gegenwart bereitete ihr Unbehagen. Sie zwang sich zu einem Lächeln und trat einen Schritt zur Seite. Wie sollte sie eine Reliquie von einem solch öffentlichen Ort stehlen? Warum hatte sie nicht vorher auf der Piazza daran gedacht? Sie konnte noch nicht einmal mit dem Priester reden …
Dann fiel es ihr wieder ein: Sie sprach Italienisch. Sie hatte es – mehr oder weniger – sofort gelernt, als sie durch den Verkünder auf italienischen Boden getreten war.
»Das ist eine schöne Skulptur«, sagte sie zu dem Priester.
Ihr Italienisch war nicht perfekt – sie sprach wie jemand, der es einmal fließend beherrscht hatte und dem es nun ein wenig eingerostet war. Trotzdem, es war gut genug, dass der Priester sie verstehen konnte.
»Ja, das ist sie.«
»Die Arbeit des Künstlers mit dem … Meißel«, sagte sie und breitete die Arme weit aus, als würde sie das Werk kritisch betrachten, »ist so, als hätte er den Engel aus dem Stein befreit.« Luce richtete den Blick ihrer großen Augen wieder auf die Skulptur und versuchte, so unschuldig wie möglich zu wirken, dann ging sie einmal um den Engel herum. Und tatsächlich, ein goldener, mit Glas ausgefüllter Heiligenschein bekrönte dessen Kopf. Nur dass er nicht an den Stellen beschädigt war, die Daniels Skizze angedeutet hatte. Vielleicht war er restauriert worden.
Der Priester nickte weise und sagte: »Kein Engel war nach der Sünde des Sturzes jemals frei. Das kundige Auge kann auch dies erkennen.«
Daniel hatte ihr den Trick erklärt, wie sie den Heiligenschein vom Kopf des Engels lösen konnte: Sie musste ihn wie ein Lenkrad umfassen und zweimal entschieden, aber mit Gefühl gegen den Uhrzeigersinn drehen. »Weil er aus Glas und Gold gefertigt ist, konnte er der Skulptur erst nachträglich hinzugefügt werden. Daher wurde eine Basis in den Stein gehauen und der Heiligenschein mit einem passgenauen Loch versehen. Nur zwei kräftige Drehungen – aber vorsichtig!« Das würde ihn aus seiner Verankerung lösen.
Sie schaute zu der gewaltigen Statue hinauf, die über ihren Köpfen aufragte.
Gut.
Der Priester trat neben Luce. »Dies ist Raphael, der
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