Engelslicht
hatten, sah Menschen in langen, dunklen Mänteln, die über beleuchtete Brücken gingen und Einkäufe zu ihren Familien nach Hause trugen.
Luce fühlte sich schmerzlich einsam. Dachte ihre Familie an sie? Stellten sich ihre Eltern vor, dass sie in dem engen Wohnheimzimmer saß, in dem sie in der Sword & Cross geschlafen hatte? War Callie inzwischen wieder zurück in Dover? Würde sie sich auf den kalten Fenstersitz in ihrem Zimmer hocken, die dunkelroten Fingernägel trocknen lassen und am Telefon über ihre merkwürdige Thanksgivingreise plaudern, um sich mit einer anderen Freundin zu verabreden, die nicht Luce war?
Eine dunkle Wolke zog an der Uhr vorbei und verbarg sie, als es sechs schlug. Daniel war seit einer Stunde fort, die Luce vorkam wie ein Jahr. Sie beobachtete die Kirchenglocken, wie sie läuteten, beobachtete die Zeiger der großen, alten Uhr, und sie ließ die Gedanken zu ihren Leben zurückwandern, die sie vor der Erfindung der Zeitmessung gelebt hatte, als Zeit noch Jahreszeiten bedeutete, das Pflanzen und Ernten.
Nach dem sechsten Schlag der Uhr kam ein weiterer – und Luce fuhr gerade rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Olianna auf die Knie sackte. Sie fiel und landete schwer in Luces Armen. Luce drehte den zerlumpten Engel um und berührte Oliannas Gesicht.
Die Outcast war bewusstlos. Das Geräusch, das Luce gehört hatte, war der Schlag auf den Kopf, den Olianna erhalten hatte.
Vor Luce stand eine riesige Gestalt in einem schwarzen Umhang. Es war ein Mann, und sein Gesicht war voller Falten und sah unglaublich alt aus, Hautlappen hingen von seinen stumpfen blauen Augen und seinem vorspringendem Kinn herab, unter einem Mund voller schiefer schwarzgelber Zähne. In der großen rechten Hand hielt er die Fahnenstange, die er als Waffe benutzt haben musste. An ihrem Ende hing die österreichische Flagge und flatterte sanft gegen das Dach.
Luce sprang auf und hob unwillkürlich die Fäuste, ehe sie sich fragte, was sie ihr gegen diesen gewaltigen Teufel nutzen würden.
Seine Flügel waren von einem sehr blassen Blau, beinahe weiß. Und verglichen mit seinem Körper waren sie klein. Ausgestreckt reichten sie kaum weiter als seine Arme.
Etwas Kleines und Goldenes war vorne an den Umhang des Mannes geheftet: eine Feder – eine marmorierte goldschwarze Feder. Luce wusste, von wessen Flügel sie stammte. Aber warum sollte Roland dieser Kreatur eine Feder von seinen Flügeln geben?
Er hätte es nicht getan. Die Feder war geknickt und durchtrennt, und am Kiel fehlte ihr ein Stück. Ihre Spitze war rot vor Blut, und statt aufrecht zu stehen wie die große, brillante Feder, die Daniel Phil gegeben hatte, schien diese verwelkt und verblasst zu sein, als sie an den schwarzen Umhang dieses schauerlichen Engels gesteckt worden war.
Ein Trick.
»Wer bist du?«, fragte Luce und fiel auf die Knie. »Was willst du?«
»Zeig ein wenig Respekt.« Die Kehle des Engels zuckte, als wollte er bellen, aber seine Stimme klang zittrig und schwach.
»Verdiene dir meinen Respekt«, erwiderte Luce. »Dann werde ich ihn dir geben.«
Er bedachte sie mit einem bösen Grinsen und ließ den Kopf sinken. Dann zog er den Umhang herunter, um seinen Nacken zu entblößen. Luce blinzelte in dem fahlen Licht. Sein Hals trug ein Brandzeichen, das in dem Schein der Straßenlaternen und des Mondes golden schimmerte: ein Stern mit sieben Zacken.
Er war ein Mitglied der Waage.
»Erkennst du mich jetzt?«
»Arbeiten so die Vollstrecker des Throns? Indem sie unschuldige Engel niederschlagen?«
»Kein Outcast ist unschuldig. Noch irgendjemand sonst, was das betrifft, bis das Gegenteil bewiesen wurde.«
»Sie haben sich der Ehrlosigkeit schuldig gemacht, von hinten auf ein Mädchen loszugehen.«
»Frechheit.« Er rümpfte die Nase. »Damit wirst du bei mir nicht weit kommen.«
»Da wollte ich auch gar nicht hin.« Luces Blick schoss zu Olianna hinüber, zu ihrer bleichen Hand und dem Sternenpfeil, den sie umklammert hielt.
»Aber da wirst du auch nicht bleiben«, sagte der Engel stockend, als müsse er sich dazu zwingen, bei ihrem unsinnigen Wortgeplänkel mitzumachen.
Luce riss den Sternenpfeil an sich, als der Engel sich auf sie stürzte. Aber er war viel schneller und stärker, als er aussah. Er entwandt ihr den Pfeil und verpasste ihr eine kräftige Ohrfeige, sodass sie hart auf dem Dach aufschlug. Dann hielt er ihr die Spitze des Sternenpfeils über das Herz.
Sie können keine Sterblichen töten. Sie können keine
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