Engelslicht
Kriegerstatue lehnte. Er war voller Regentropfen. »Bitte, keine Diskussion. Wir müssen die Waage von der Reliquie fernhalten. Der Heiligenschein ist hier am sichersten, und du bist es auch. Olianna wird bleiben, um dich zu beschützen.«
Luce sah das Mädchen an, das mit einem leeren Ausdruck zurückstarrte, ihre Augen ein Grau ohne Tiefe. »Gut, ich bleibe hier.«
»Lass uns hoffen, dass sie die zweite Reliquie noch nicht haben«, sagte er und bog die Flügel zurück. »Sobald die anderen befreit sind, überlegen wir gemeinsam, wie wir sie finden können.«
Luce ballte die Fäuste, schloss die Augen und küsste Daniel, dann hielt sie ihn für einen letzten Moment fest an sich gedrückt.
Eine Sekunde später war er fort, und seine königlichen Flügel wurden kleiner, als er in die Nacht aufstieg, die drei Outcasts an seiner Seite. Schon bald wirkten sie nur noch wie Staubkörner in den Wolken.
Olianna wirkte wie eine in einen Trenchcoat gehüllte Version einer der Statuen auf dem Dach. Sie stand Luce mit verschränkten Armen gegenüber, das blonde Haar so straff aus der Stirn gekämmt und zum Pferdeschwanz gebunden, dass es aussah, als würde es reißen. Dann griff sie in den Trenchcoat, wobei ein strenger Geruch von Sägespänen herauswehte. Als sie einen silbernen Sternenpfeil herausnahm und einlegte, wich Luce einige Schritte zurück.
»Hab keine Angst, Lucinda Price«, sagte Olianne. »Ich will nur bereit sein, dich zu verteidigen, falls ein Feind sich nähert.«
Luce versuchte, nicht daran zu denken, welche Feinde das blonde Mädchen im Sinn hatte. Sie ließ sich wieder aufs Dach sinken und schützte sich hinter der Kriegerfigur mit dem goldenen Speer vor dem Wind, mehr aus Gewohnheit denn aus Notwendigkeit. Sie setzte sich so, dass sie den hohen Uhrturm aus braunen Ziegelsteinen mit dem goldenen Zifferblatt noch sehen konnte. Halb sechs. Sie zählte die Minuten, bis Daniel und die anderen Outcasts zurückkamen.
»Willst du dich hinsetzen?«, fragte sie Olianna, die dicht hinter Luce stand, den Pfeil schussbereit.
»Ich ziehe es vor, Wache zu stehen …«
»Yeah, ich schätze, man kann wirklich nicht Wache sitzen«, murmelte Luce. »Ha-ha.«
Unten heulte eine Sirene auf und ein Streifenwagen raste durch einen Kreisverkehr. Als er fort war und es wieder still wurde, wusste Luce nicht, wie sie die Stille füllen sollte.
Sie starrte auf die Uhr und blinzelte, als würde es ihr helfen, durch den Nebel zu sehen. Hatte Daniel das Museum inzwischen erreicht? Was würden Arriane, Roland und Annabelle tun, wenn sie die Outcasts sahen? Luce realisierte, dass Daniel niemandem außer Phil eine Feder aus seinem Flügel gegeben hatte. Woher würden die Engel wissen, dass sie den Outcasts trauen konnten? Sie hatte die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen und ihr ganzer Körper versteifte sich vor Frustration. Warum saß sie hier herum und wartete und riss dumme Witze? Sie sollte eine aktive Rolle spielen. Schließlich wollte die Waage nicht Luce. Sie sollte helfen, ihre Freunde zu retten und die Reliquie zu finden, statt hier zu sitzen wie ein Fräulein in Nöten, das auf die Rückkehr seines Ritters wartete.
»Erinnerst du dich an mich, Lucinda Price?«, fragte die Outcast so leise, dass Luce es beinahe überhört hätte.
»Warum sprechen die Outcasts uns plötzlich mit vollem Namen an?« Sie drehte sich um und sah, dass das Mädchen ihr den Kopf zugeneigt hatte, während Pfeil und Bogen nun an ihrer Schulter lehnten.
»Es ist ein Zeichen des Respekts, Lucinda Price. Wir sind jetzt eure Verbündeten. Deine und Daniel Grigoris. Erinnerst du dich an mich?«
Luce dachte kurz nach. »Warst du eine der Outcasts, die im Garten meiner Eltern gegen die Engel gekämpft haben?«
»Nein.«
»Es tut mir leid.« Luce zuckte die Achseln. »Ich erinnere mich nicht an alles aus meiner Vergangenheit. Sind wir uns schon einmal begegnet?«
Die Outcast hob den Kopf ein wenig an. »Wir haben einander früher gekannt.«
»Wann?«
Das Mädchen hob in einer zierlichen Geste die Schultern, und Luce bemerkte plötzlich, dass sie hübsch war. »Früher eben. Es ist schwer zu erklären.«
»Was ist das nicht?« Luce drehte sich wieder um. Sie war nicht in der Stimmung, ein weiteres kryptisches Gespräch zu entschlüsseln. Sie stopfte sich die eiskalten Hände in die Ärmel des weißen Pullovers und sah dem Verkehr auf den glatten Straßen zu, sah die kleinen Autos, die sich in gewundenen Gassen in schräge Parklücken gezwängt
Weitere Kostenlose Bücher