Engelslicht
wurde Luce sich der Stille im Flur bewusst und des dumpfen Geräuschs ihrer Schritte auf dem glatten Steinboden.
An der ersten offenen Tür auf der linken Seite des Flurs blieb sie stehen, da eine Erinnerung sie überkam. »Hier«, sagte sie und deutete in den Raum. Er war dunkel bis auf den gelben Schein einer Lampe auf der Fensterbank, demselben Licht, das sie von draußen gesehen hatten. »War dies nicht Dr. Ottos Büro?«
Es war zu dunkel, um gut zu sehen, aber Luce erinnerte sich an ein Feuer, das fröhlich im Kamin auf der gegenüberliegenden Seite des Raums gebrannt hatte. In ihrer Erinnerung standen ein Dutzend Bücherregale neben dem Kamin, die von Dr. Ottos Büchern überquollen. Hatte ihr früheres Ich nicht ihre in Wollsocken steckenden Füße auf den Fußschemel am Feuer gelegt und den vierten Band von Gullivers Reisen gelesen? Und hatte nicht der reichlich fließende Apfelwein des Doktors den ganzen Raum nach Äpfeln, Zimt und Nelken duften lassen?
»Du hast recht.« Daniel nahm einen Leuchter mit brennenden Kerzen aus seiner Nische im Flur und beleuchtete damit den Raum. Aber das Gitter vor dem Kamin war geschlossen, genauso wie der antike hölzerne Sekretär in der Ecke, und selbst im warmen Kerzenschein wirkte die Luft kalt und abgestanden. Die Regale bogen sich in der Mitte unter dem Gewicht der Bücher, die eine dicke Staubschicht bedeckte. Das Fenster, das einst auf eine belebte Wohnstraße hinausgesehen hatte, war mit dunkelgrünen Vorhängen verhangen, was dem Raum einen trostlosen Anschein von Verlassenheit verlieh.
»Kein Wunder, dass er meine Briefe nicht beantwortet hat«, murmelte Daniel. »Es sieht so aus, als sei der Doktor weitergezogen.«
Luce ging zu den Bücherregalen und strich mit dem Finger über einen staubigen Buchrücken. »Glaubt ihr, in einem dieser Bücher könnte etwas über das Begehrenswerte stehen, nach dem wir suchen?«, fragte Luce und nahm einen Band aus dem Regal: Canzoniere von Petrarca, gesetzt in gotischer Schrift. »Ich bin mir sicher, Dr. Otto hätte nichts dagegen, dass wir uns hier umsehen, wenn uns das helfen könnte, das Desideratum zu fin …«
Sie brach ab. Sie hatte etwas gehört – das leise Summen einer Frauenstimme.
Die Engel wechselten Blicke, als sie ein weiteres Geräusch in der dunklen Bibliothek vernahmen. Neben dem unheimlichen Lied hörten sie nun das Klappern von Schuhen und das Klirren eines Wagens, der geschoben wurde. Daniel schlich zu der offenen Tür. Luce folgte ihm und spähte vorsichtig in den Flur.
Ein dunkler Schatten streckte sich ihnen entgegen. Kerzen flackerten in den steinernen rosa Nischen in dem gewölbten, tunnelartigen Flur, verzerrten den Schatten und ließen die Arme gespenstisch und unnatürlich lang erscheinen.
Die Besitzerin des Schattens, eine dünne Frau in einem grauen Bleistiftrock, einer senffarbenen Strickjacke und sehr hohen schwarzen Schuhen, kam auf sie zu und schob einen feinen silbernen Teewagen vor sich her. Ihr feuerrotes Haar war zu einem Knoten aufgesteckt. Elegante goldene Reifen glitzerten in ihren Ohren. Etwas an der Art, wie sie ging, wie sie sich hielt, wirkte vertraut.
Während die Frau vor sich hin summte, hob sie leicht den Kopf und warf den Schatten ihres Profils an die Wand. Der Schwung der Nase, das vorspringende Kinn, die leichte Wölbung der Brauen – all das vermittelte Luce ein Gefühl von Déjà-vu. Sie durchsuchte ihre Vergangenheit nach anderen Leben, in denen sie diese Frau vielleicht gekannt hatte.
Plötzlich wich alles Blut aus Luces Gesicht. Keine Haartönung dieser Welt konnte sie täuschen.
Die Frau, die den Teewagen schob, war Miss Sophia Bliss.
Ohne nachzudenken, griff Luce nach einem kalten Schürhaken aus Messing, der in einem Ständer neben der Bibliothekstür lehnte. Mit zusammengebissenen Zähnen und klopfendem Herzen hob sie ihn wie eine Waffe und stürmte in den Flur.
»Luce!«, rief Daniel.
»Dee?«, sagte Arriane.
»Ja, Liebes?«, antwortete die Frau eine Sekunde, bevor sie Luce bemerkte, die auf sie zustürmte. Sie sprang im gleichen Augenblick beiseite, als Daniels Arm sich um Luce legte und ihren Angriff aufhielt.
»Was machst du da?«, flüsterte Daniel.
»Sie ist – sie ist …« Luce wehrte sich gegen Daniel, sein Griff tat ihr weh. Diese Frau hatte Penn umgebracht. Sie hatte versucht, Luce zu ermorden. Warum wollten die anderen sie nicht töten?
Arriane und Annabelle liefen zu Miss Sophia und überfielen sie mit einer doppelten Umarmung.
Luce
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