Engelslicht
verwischten.
Dann sah Luce, dass ein Gebäude reglos blieb, als sei es unverwundbar gegen die Strömungen des Kosmos. Es war ein kleines braunes Haus in der Mitte der schwankenden weißen Straße.
Vor einer Sekunde war es noch nicht da gewesen. Man sah es wie durch einen Wasserfall, und es war nur für einen Moment sichtbar, bevor es sich krümmte und schimmerte und wieder in der Reihe teurer, moderner Stadthäuser verschwand.
Aber für einen Moment war das Haus da gewesen, ein festgefügtes Ding in dem alles verzehrenden Chaos, kein und doch ein Teil der Wiener Straße.
Das Zeitbeben kam mit einem Schaudern zum Erliegen und die Welt um Luce und die Engel herum verstummte. Es war nie stiller als in jenen Momenten unmittelbar nach einem Beben in der Zeit.
»Habt ihr das gesehen?«, rief Roland glücklich.
Annabelle schüttelte die Flügel aus und strich die Spitzen mit den Fingern glatt. »Ich erhole mich immer noch vom letzten Mal. Ich hasse diese Beben.«
»Ich auch.« Luce erschauderte. »Ich habe etwas gesehen, Roland. Ein braunes Haus. War es das? Die Stiftsbibliothek?«
»Ja.« Daniel flog einen immer enger werdenden Kreis über der Stelle, wo Luce das Haus gesehen hatte.
»Vielleicht sind diese Wackelkontakte ja doch für irgendetwas gut«, meinte Arriane.
»Wo ist das Haus hin?«, fragte Luce.
»Es ist immer noch da. Es ist bloß nicht hier«, antwortete Daniel.
»Ich habe Legenden über diese Dinge gehört.« Roland fuhr sich durch die dicken goldschwarzen Dreadlocks. »Aber ich hätte nie gedacht, dass sie wirklich möglich sind.«
»Welche Dinge?« Luce kniff auf der Suche nach dem braunen Haus die Augen zusammen. Aber die Reihe moderner Stadthäuser rührte sich nicht. Die einzige Bewegung auf der Straße kam von den kahlen Ästen im Wind.
»Man nennt es Patina«, erklärte Daniel. »Es ist eine Möglichkeit, die Realität um eine Einheit von Zeit und Raum zu biegen …«
»Es ist eine Neuordnung der Realität, um etwas zu verstecken«, fügte Roland hinzu, dann flog er an Daniels Seite und spähte nach unten, als könne er das Haus noch sehen.
»Also, während diese Straße durchgehend in einer Realität existiert« – Annabelle deutete auf die Stadthäuser hinab –, »liegt darunter ein anderes, unabhängiges Reich, in dem diese Straße zu unserer Stiftsbibliothek führt.«
»Patinas bilden die Grenzen zwischen Realitäten«, sagte Arriane, die Daumen in die Hosenträger ihres Overalls eingehakt. »Eine Lasershow, die nur besondere Leute sehen können.«
»Ihr scheint ja eine Menge über diese Dinge zu wissen«, bemerkte Luce.
»Yeah.« Arriane lachte spöttisch. »Außer wie man durch eine durchkommt.«
Daniel nickte. »Nur wenige Wesen sind mächtig genug, um Patinas zu schaffen, und die, die es können, halten sie streng bewacht. Die Bibliothek ist hier. Aber Arriane hat recht. Wir müssen herausfinden, wie wir hineingelangen können.«
»Angeblich braucht man einen Verkünder, um reinzukommen«, sagte Arriane.
»Eine kosmische Legende.« Annabelle schüttelte den Kopf. »Jede Patina ist anders. Der Zugang liegt ganz allein bei ihrem Schöpfer. Er programmiert den Code.«
»Cam hat auf einer Party mal eine Geschichte erzählt, wie er sich Zutritt zu einer Patina verschafft hat«, berichtete Roland. »Oder war das eine Geschichte über eine Party, die er in einer Patina geschmissen hat?«
»Luce!«, sagte Daniel plötzlich, und sie zuckten alle im Flug zusammen. »Du bist es. Du bist es immer gewesen.«
Luce zuckte die Achseln. »Immer was gewesen?«
»Du bist diejenige, die immer die Glocke geläutet hat. Du bist diejenige, die Zugang zu der Bibliothek hatte. Du brauchst nur die Glocke zu läuten.«
Luce schaute über die leere Straße, wo der Nebel alles ringsum braun färbte. »Wovon redest du? Welche Glocke?«
»Schließ die Augen«, forderte Daniel sie auf. »Erinnere dich daran. Gehe in die Vergangenheit und suche den Glockenzug …«
Luce war bereits da, zurück in der Bibliothek, als sie das letzte Mal mit Daniel hier in Wien gewesen war. Ihre Füße standen fest auf dem Boden. Es regnete und die Haare klebten ihr im Gesicht. Ihre roten Haarschleifen waren nass, aber das kümmerte sie nicht. Sie suchte nach etwas. Da war ein kurzer Weg durch den Vorgarten, dann eine dunkle Nische vor der Bibliothek. Draußen war es kalt gewesen und drinnen brannte ein Feuer. Dort, in der staubigen Ecke neben der Tür, befand sich ein Flechtband, das mit weißen Pfingstrosen
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