Engelslied
Sie rang sichtlich darum, nicht laut loszulachen, aber eigentlich war die
Schlacht schon so gut wie verloren. Bald krümmte sich seine Gemahlin hilflos, musste sich mit beiden Händen auf den Knien abstützen. Ihr Lachen lag in der Luft wie ein wildes Meer an Farben.
Zum ersten Mal beneide ich dich, Raphael.
Als Raphael aufsah, begegnete er Keirs Blick.
Nicht jeder Mann hat eine Liebste, die auf sein Blut aus ist,
fuhr der Heiler fort.
Leise lachend verschwand er in seiner Suite, während Naasir mit der Anmut eines wilden Tieres hinunter in den Hof sprang, um die auf dem Boden liegenden Messer aufzusammeln und Elena zu überreichen, die sich wieder aufgerichtet hatte und sich die Lachtränen aus den Augen wischte.
»Danke«, keuchte sie und ließ die Waffen so schnell verschwinden, dass Raphael die Bewegung kaum wahrnahm, geschweige denn sagen konnte, wo sie die dünnen Klingen hingesteckt hatte.
»Warum haben Sie geschummelt?« Der Vampir hatte den Kopf schräg gelegt und sah Elena fragend an. »Mit den Messern?«
»Ich habe gegen einen Erzengel gekämpft! Der mich wie einen Wurm zertreten kann, natürlich schummele ich da. Vor allem, wenn ich mit dem betreffenden Erzengel ein Hühnchen zu rupfen habe.«
Naasir starrte sie an. »Wenn ich mal in New York bin, trainieren wir zusammen«, sagte er grinsend.
Fünfundzwanzig Minuten später – sie hatten geduscht und sich für die Reise umgezogen – wusste Elena immer noch nicht genau, was da zwischen ihr und Naasir passiert war. »Mag er mich jetzt?«, erkundigte sie sich bei Raphael, während die beiden vor dem Abflug noch ein leichtes Frühstück zu sich nahmen.
»Naasir mag nur wenige Leute. Dich findet er interessant, glaube ich.«
»Hm.« Elena biss in ihren Honigtoast. »Ich weiß nicht, ob ich das möchte – von einem Tigerwesen interessant gefunden werden. Anderes Frischfleisch findet er wahrscheinlich doch auch interessant.«
»Tigerwesen?«
»Hör auf zu lachen!« Sie funkelte ihn verärgert an, während sie ihm ein Glas Orangensaft einschenkte und über den Tisch hinweg zuschob. »Tut mir leid, meine Panikattacke beim Aufwachen.«
Gehorsam trank er seinen Saft. Aus seinen Augen – herzzerreißend blau wie ein See hoch oben in den Bergen – wich jegliche Belustigung, um Besorgnis Platz zu machen. »Warum ausgerechnet heute?«, erkundigte er sich sanft. »So haben dich deine Albtraumerinnerungen noch nie mitgenommen.«
»Ich weiß es nicht, ich kann es wirklich nicht sagen.« Es war ein Gefühl gewesen, als sei sie als Person gar nicht mehr vorhanden, sei nur noch ein blutiger Fleischklumpen, als hätte die überwältigende Grausamkeit der Erinnerung jede einzelne ihrer Leistungen, jeden ihrer Erfolge ausgelöscht. »Ich …« Mühsam holte sie Luft. »Ich wünschte, irgendwer könnte das regeln. Mich heilen. Damit ich mich an meine Schwestern und meine Mutter erinnern kann, ohne jedes Mal diesen schrecklichen Schmerz zu spüren.«
Mit Plattitüden war ihr hier nicht geholfen. Raphael versuchte es mit nacktem, hartem Pragmatismus: »Du bist noch jung. Natürlich werden diese Erinnerungen nie ganz verschwinden, aber sie werden mit der Zeit ihre Macht über dich verlieren, dir nicht mehr solchen Schaden zufügen.«
»Ohne dir zu nahe treten zu wollen: Mir ist wirklich nicht danach, noch die nächsten hundert Jahre schreiend aus irgendwelchen Albträumen zu erwachen!« Unsterbliche hatten einen anderen Zeitbegriff als Sterbliche, das hatte sie inzwischen begriffen.
»Das brauchen wir wohl kaum zu befürchten, dazu bist du viel zu dickköpfig.« Raphael streckte die Hand aus, um Elenas Wange zu streicheln. »Es gibt einen Grund dafür, dass die Albträume schlimmer werden. Du kennst ihn auch.«
Verwundert runzelte sie die Stirn. »Was für einen Grund denn? Der Jahrestag kann es nicht sein, der ist noch lange hin.«
»Manchmal überraschst du mich wirklich
Hbeebti
.«
Raphael ließ die Hand sinken. »Eve!« Ein einzelnes Wort, aber es reichte, um in Elenas Kopf einige Puzzleteile zusammenzusetzen.
Ihre Halbschwester Eve war heute nur wenig älter als Elena gewesen war, als Slater Patalis auftauchte, um ihre Welt zu zerstören. Und Eve eignete sich gerade ihre Kräfte als Jägerin an – wie Elena es in jenem Schicksalsjahr getan hatte. »Natürlich!« Ihre Finger lagen reglos auf der weißen Tischdecke. »Wie hat mir das entgehen können?«
»Weil die Verletzung noch zu frisch ist.«
»Vielleicht.« Sie leerte ihr Glas Orangensaft in
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