Engelslied
Konsequenzen einging, wenn sie wütend war.
Leider nur überanstrengte sie sich nicht zum ersten, sondern bereits zum zweiten Mal auf diese Weise. Ein drittes Mal wäre vielleicht das Ende.
Wenn sie aus dieser Höhe ins Meer stürzte, war fraglich, ob sie es überleben würde. Oder sie hatte Glück und überlebte erst einmal mit zerschmetterten Knochen und kollabierten inneren Organen, und was dann? So jung sie auch sein mochte, es würde sie letztlich doch umbringen, sie würde entweder an ihren Verletzungen sterben oder ertrinken. Raphael konnte auch ohne Luft weiterleben, Elena noch lange nicht.
Obwohl er so hoch über ihr flog, dass sie sich nicht verfolgt fühlen konnte, erkannte er sofort den Moment, in dem ihr die Gefahr bewusst wurde, in die sie sich begeben hatte. Sie wendete, um zur Enklave zu fliegen, aber ihre Flügel trugen sie nicht mehr sicher, sie kippte in die Tiefe, fing sich wieder, kippte erneut in Richtung Wasser. Jedes Mal gelang es ihr kurz, sich zu stabilisieren, aber bald darauf kippte sie erneut, immer schneller, immer tiefer.
Aber sie bat ihn nicht um Hilfe, immer noch nicht.
Mit zusammengebissenen Zähnen ließ er sich tief genug sinken, um ihr im Notfall beistehen zu können. Es ging einfach nicht, dass sie ernsthaft zu Schaden kam. Was nützte die schönste Lektion, wenn man sie nicht überlebte?
Willst du dich von deinem Stolz bis auf den Grund des Ozeans hinunterziehen lassen?
Schweigen. Sie hatte die Sehnen am rechten Flügel überspannt, sie konnten jeden Moment nachgeben. Jetzt reichte es. Raphael flog schneller, flog so schnell, dass nur ein Erzengel hätte mithalten können, überholte Elena, wendete und flog ihr entgegen, um sie fest unter den Flügeln zu packen. »Klapp deine Flügel zu!«, befahl er.
»Nein, lass mich los!« Auch sie hatte die Zähne zusammengebissen, als sie empört auf seine Schultern einschlug. Ihre aufgespannten Flügel behinderten sie, stellten sie doch einen erheblichen Luftwiderstand dar. »Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten.«
»Die Sehnen deines rechten Flügels können jeden Moment versagen. Das kennst du doch vom letzten Mal, willst du dich ernsthaft zum Krüppel machen?« Am liebsten hätte Raphael seine Gemahlin kräftig durchgeschüttelt. »Wenn du immer wieder dieselben Sehnen verletzt, wirst du dich die nächsten paar Jahre nur noch am Boden vergnügen können.«
»Mir geht es prima.« Unter heftigem Drehen und Wenden schlug sie mit beiden Fäusten auf ihn ein. Fast wäre es ihr auch gelungen, sich zu befreien, denn Raphael war solch irrationales Handeln nicht gewohnt und hatte nicht damit gerechnet.
»Lass mich los«, fauchte sie. »Oder, bei Gott, ich werde …«
»Was? Mit deinen Messern auf mich losgehen?« Seine Arme waren wie Stahlklammern. »Würdest du ernsthaft mein Blut vergießen wollen, Gildejägerin?«
Da endlich hielt sie die Fäuste still und faltete, ohne ihn anzusehen, die Flügel zusammen. Ihr Schweigen machte ihn nervös, zerrte an seinen Sinnen, weswegen er mit einer Hand ihr Kinn packte. Er wollte ihren Kopf zu sich herumdrehen, wollte, dass sie seine Gegenwart zur Kenntnis nahm. Sie leistete Widerstand – und dann spürte er auf seiner Hand einen einzelnen, heißen Tropfen.
»Elena
.
«
Dass sie weinte, schockierte ihn. Natürlich hatte er seine Gemahlin schon weinen sehen, aber nie, wenn sie einen Streit miteinander ausfochten. Über solche emotionalen Manipulationen war sie erhaben, selbst jetzt versuchte sie ja noch, die Tränen abzuschütteln, als hätte es sie gar nicht gegeben. »Tut dir irgendetwas weh?« Hatte sie sich eine Sehne gerissen, war er zu spät gekommen?
»Nein. Alles in Ordnung.«
Ihre Antwort ließ ihn von Neuem böse werden. »Nichts ist in Ordnung!« Er riss ihr Kinn hoch. »Sprich mit mir, oder …«
»Oder was?«, unterbrach ihn Elena. »Oder du holst dir die Antworten aus meinem Kopf?«
»Unterstellst du mir, dass ich mein Versprechen breche? Stellst du meine Ehre infrage? So vertraust du mir also?«
Statt jetzt beschämt zu wirken, blieb Elena unvermindert fuchsteufelswild. »Ich vertraue dir mehr als jedem anderen im Universum. Das genau ist ja mein Problem!«
»Es belastet dich, mir dein Vertrauen zu schenken?« Raphaels Finger legten sich fester um Elenas Kinn, er musste sich zwingen, durch weißglühenden Zorn hindurch zu sprechen. »Du gehörst mir, Elena. Ich habe ein Recht darauf, dass du mir vertraust!«
»Aber mit dir geschieht etwas!« Ein Hagel an
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