Engelslied
einen Bolzen durch den Hals jagen, damit sind sie länger außer Gefecht gesetzt.«
»Es dauert aber auch wesentlich länger, einen solchen Schuss abzugeben.« Elena schüttelte den Kopf. »Das müssten wir speziell trainieren. Wir holen mehr von ihnen runter, wenn wir auf die Flügel zielen.«
»Ja, aber die mit den verletzten Flügeln sind auch schneller wieder auf den Beinen!«
Sie sahen Ransom an. Der runzelte die Stirn. »Wir haben ungefähr fünfundzwanzig Scharfschützen an der Armbrust. Wir könnten mischen: Die Scharfschützen zielen auf die Hälse, die anderen auf die Flügel. So wissen unsere Gegner nicht, auf wen sie sich einschießen sollen, und den Scharfschützen bleibt Zeit zum Zielen, weil ihnen die anderen Deckung geben.«
»Klingt gut, finde ich.« Demarco warf Elena einen Seitenblick zu, und als sie zustimmend nickte, fuhr er fort: »Okay, jetzt zu den Stellungen.«
Die nächsten paar Stunden sorgten die drei dafür, dass jeder einzelne Schütze wusste, wo er zu sein hatte, wenn der Spuk losging. Als Demarco und Ransom mit der Planung zufrieden schienen, trommelte Elena ein paar jüngere Engel zusammen und flog über die Stellungen der Gildejäger, damit die das Zielen auf bewegliche Objekte mit Flügeln üben konnten. Die Schützen an den Flugabwehrgeschossen arbeiteten mit Markierungspatronen, die Armbrustschützen mit stumpfen Bolzen.
Nach Beendigung der Übungseinheit sprach Elena noch eine gute Viertelstunde mit Demarco und Ransom über mögliche Verbesserungen, ehe sie losflog. Sie wollte Raphael sehen, der sich bei einer der hoch gelegenen Stellungen aufhielt, um zusammen mit Jason und Illium irgendetwas auszuprobieren. Von Zeit zu Zeit zuckten schwarze Blitze über den Himmel.
Elena war gerade eine lange Kurve geflogen, um den Aufstieg hoch zu den dreien einzuleiten, als es geschah.
Der Hudson änderte seine Farbe. Diesmal jedoch war die Farbwelle nicht blutrot, sondern zeigte sich in einem intensiven, vibrierenden, mit weißem Feuer gemischten Blau. Engel, die sich in der Nähe aufgehalten hatten, blieben über dem Wasser schwebend stehen, aber Elena konnte beobachten, wie ein paar Möwen in den Fluss tauchten und wieder hochkamen, ohne dass ihnen etwas passiert wäre. Nur ihre Federn glitzerten blau, bis das Wasser abgetropft war.
»Eine interessante Entwicklung.« Raphael hatte sich zu Elena herunterfallen lassen und schwebte nun neben seiner Gemahlin. »Astaad übt ja gerüchteweise eine gewisse Kontrolle über das Meer aus, die sich aber gut ebenso zu einer Kontrolle über sämtliche Gewässer ausgewachsen haben könnte.«
»Vielleicht, aber das da sind deine Farben.« Das herzzerreißende Blau, reiner als jeder Edelstein auf dieser Erde, existierte nur in den Augen ihres Erzengels und in denen der Frau, die ihn geboren hatte. Unter anderen Umständen hatte Elena diesen Farbton noch nie gesehen – bis jetzt.
»An dem Tag, als ich in den Kader aufstieg, regnete es einen solchen Farbton, und die Gewässer der Welt wurden zu meinen Augen. Damals hatte ich dich noch nicht in meinem Herzen, es gab kein Dämmerlicht.«
Elena betrachtete sein Profil. Es war rein und klar, das tiefrote Mal lag hinter einem Zauber verborgen. »Könnte es ein Zeichen sein? Dein Mal? Für weitere Entwicklungen?« Unwillkürlich kam ihr das weiße Feuer auf seinen Flügeln in den Sinn. Raphael hatte es für ein Trugbild gehalten, das beim Pulsieren von Kraft entstanden war.
Das mit dem Trugbild klang logisch – nur bestand irgendetwas tief in Elenas Innerem darauf, etwas Reales gesehen zu haben. Sie meinte immer noch, dass ihre Finger Flammen gefangen hätten, hätte sie in diesem Moment die Flügel ihres Gemahls berührt.
»Wenn es ein Zeichen für Evolution ist, dann kann ich diese Evolution nicht spüren. Anders als damals meinen Aufstieg zum Erzengel.« Er richtete seine Flügel entsprechend aus, um hinunter zum Wasser zu fliegen.
Elena folgte ihm, bis sie nicht tiefer zu sinken wagte und in der Luft schwebend anhielt, um zuzusehen, wie er die Hände durch das Flusswasser gleiten ließ.
Das Wasser schmeckt wie die Kraft, die versucht hat, sich in mich hineinzudrängen.
Geh da weg!
Elena wollte das Herz stehen bleiben. Zu gut noch erinnerte sie sich an die schreckliche Kälte, die mit dem Blutregen gekommen war.
Heute ist der Fluss nicht kalt, obwohl doch Winter ist.
Trotzdem stieg Raphael wieder zu Elena hinauf.
Im selben Moment begann die Farbe unten im Fluss, sich
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