Engelslied
Vampir sie fand, dann war er verschwunden.
Elena, die zum ersten Mal seit Stunden mit Raphael allein war, berührte seine Wange, woraufhin er den Zauber sinken ließ, der das Mal an seiner Schläfe verhüllte. Dieser Fleck war immer schneller gewachsen, seit der Fluss seine Farbe geändert hatte. Inzwischen war eindeutig klar, dass er nichts mit der Vampirkrankheit zu tun haben konnte. Nein, er war ein Zeichen, ein Symbol. Wild, gleichzeitig aber auch elegant, auf eine gefährliche Art und Weise. Er bestand aus komplexen gezackten Linien, deren eines Ende von der Schläfe bis zum Ansatz des Wangenknochens reichte, während sich das andere Ende in sich selbst zusammenrollte.
»Raphael, der Fleck ist nicht mehr rot«, flüsterte Elena. Die Zeichnung war sehr schön, auf eine ursprüngliche Art, sie erinnerte an einen stilisierten Drachen. »Er trägt unsere Farbe!« Ein unglaublich strahlendes Blau von strahlendem weißem Feuer erleuchtet – das Mal war derart in Licht und Farbe getaucht, dass es lebendig wirkte.
Raphael hüllte den Zauber wieder ein, bis sie im Badezimmer ihrer Suite waren, wo er ihn fallen ließ, um das Mal im Spiegel zu betrachten. »Ich habe dieses Zeichen schon einmal gesehen«, sagte er nachdenklich. »In der Zuflucht. An Orten aus alten, längst vergangenen Zeiten. Niemand kann sich mehr daran erinnern, wann diese Schnitzereien entstanden sind.«
Elena setzte sich auf den Tisch, um sich das Mal, das sie jetzt nicht mehr erschreckte, sondern eher faszinierte, in aller Ruhe ansehen zu können. »Irgendeine Ahnung, was es bedeuten könnte?«
»Nein. Ich habe Jessamy einmal gefragt, ob sie irgendetwas über diese alten Symbole weiß. Sie sagte, sie habe auch schon einmal in den Büchern danach gesucht, sie aber nirgendwo erwähnt gefunden. Möglicherweise haben uns unsere Vorfahren hier ein Rätsel hinterlassen. Als Inspiration, um unsere Suche nach Wissen voranzutreiben. Das war jedenfalls Jessamys Einschätzung.« Raphael stellte sich zwischen Elenas Knie und hielt geduldig still, während seine Gemahlin das lebendige, leuchtende Mal mit den Fingerspitzen nachzeichnete.
»Es ist wirklich wunderschön«, sagte sie.
Raphael zog eine Braue hoch. »Viele würden es wohl eher als primitiv bezeichnen.«
»Primitiv kann wunderschön sein.« Die Zeichnung stand ihrem Erzengel, passte zu dem Mann, den sie beim Kampf gegen die Wiedergeborenen hatte beobachten können. Er hatte seine beiden Schwerter so schnell und wild wirbeln lassen – sie hätte ihm immerfort dabei zusehen können. »Ich glaube, es kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass du dich weiterentwickelst.«
»Nicht schnell genug.« Da war er wieder, dieser harte Ausdruck in Raphaels Gesicht. Der Erzengel mochte nicht spekulieren. Seiner Meinung nach galt es jetzt, streng pragmatisch zu sein. »Die Markierung mag ja inzwischen auf ihre endgültige Größe herangewachsen sein, aber kräftemäßig stehe ich nicht anders da als gestern auch. Wir müssen uns auf die Faktoren konzentrieren, die wir kontrollieren können.« Er trat einen Schritt zurück, und erneut verbarg ein Zauber das leuchtende Mal auf seiner Schläfe. »Ich muss meine Schwadronen neu einteilen. Du solltest die Leiter der Scharfschützenteams bei den Gildejägern und Vampiren wecken und das Gleiche tun.«
Elena nickte. »Eine Sache noch, Erzengel.« Sie hielt ihn am Flügel fest. »Ich glaube, du solltest das Mal nicht verdecken, wenn der Morgen kommt.«
»Um unsere Feindin zu täuschen? Damit sie glaubt, ich hätte mehr Kraft dazugewonnen, als es tatsächlich der Fall ist?«
»Ja. Und um unseren eigenen Truppen Mut zu machen.« Elena wusste auch nicht, woher diese Idee kam. Sie wurde von demselben Instinkt getrieben, der ihr auch sagte, dass Raphaels Flügel sich nicht dem äußeren Anschein nach änderten. »Wir haben nichts zu verlieren.«
Stunden später, am Himmel zog langsam das Grau des Morgens herauf, überließ Raphael Aodhan die Wache im Turm und ging in seine Suite, weil Elenas Schlaf ihm unruhig vorgekommen war, als er nach ihr gesehen hatte. Er hatte sie im Auge behalten, nachdem sie zwei Stunden zuvor endlich zu Bett gegangen war. Sie war hundemüde gewesen, hinter ihr lag ein spannungsgeladener Tag: der perfekte Nährboden für ihre Albträume.
Elena wirkte ruhelos, aber nicht verzweifelt, als er ins Schlafzimmer kam. Er legte sich neben sie, um beschützend die Flügel über sie zu breiten und ihr liebevolle Worte zuzuflüstern, bis sie nach einem
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