Engelslied
nickte langsam, tiefe Denkfalten in der zarten hellen Haut, die die Kleine von Jeffreys zweiter Frau Gwendolyn geerbt hatte. »Als würde er schlafen und wir wach sein.«
»Ja.« Elena stand auf, um die Flügel zu dehnen, wobei die weißgoldenen Handschwingen einem Topf mit blühenden Chrysanthemen bedenklich nahe kamen. »Das hast du gut gesagt.« Nur konnte ihr Vater jetzt nicht mehr einfach nur schlafen, konnte nicht so tun, als sei er auf einem Auge blind – eine Blindheit, die schon so großen Schaden angerichtet hatte. Elena würde nicht zulassen, dass er Eve ebenso verletzte, wie er sie verletzt hatte.
»Vielleicht wird er es nie verstehen, Ellie«, sagte Eve in der ihr eigenen offenen Art, als sich die beiden Schwestern zum Aufbruch bereit machten. »Deswegen ist er wohl auch immer so wütend auf dich.«
Elena drückte ihre kleine Hand, auf deren weicher Handfläche sich langsam die gleichen Schwielen abzeichneten wie auf ihren eigenen. »Jeffrey und ich haben andere Probleme.«
Wegen Elena war Slater Patalis an jenem grauenhaften Tag, der ein ganzes Leben zurückzuliegen schien, in ihrem Vorstadtheim aufgetaucht. Sie hatte ihn angelockt. Bis dahin waren sie eine glückliche, sechsköpfige Familie gewesen, Jeffrey, Marguerite und ihre vier Töchter. Mirabelle mit ihrem stürmischen Temperament und ihrer mindestens ebenso großen Liebe für ihre Mitmenschen, die ruhige, ausgeglichene Ariel, die immer alle herumkommandieren und beschützen wollte, Elena, die ihren älteren Schwestern hinterherlief und ihnen alles nachmachte, und Beth, die noch zu jung gewesen war, die sich nicht mehr richtig daran erinnern konnte, wie es gewesen war, als sie alle zusammengelebt hatten, bis Slater Patalis durch ihre Küchentür trat.
Ihre Küche … in der der mordlüsterne Vampir Ari und Belle in einem grauenhaften Blutsturm abgeschlachtet hatte, wo er ihre Mutter grausam gefoltert hatte, immer und immer wieder, die Frau, die Jeffreys große Liebe gewesen war und es immer bleiben würde. Beth war damals nicht zu Hause gewesen, Elena schon. Und obwohl doch alles ihre Schuld gewesen war, hatte ausgerechnet sie überlebt.
»Er liebt dich«, sagte Elena, während die Erinnerungen auf sie eindrangen, sie von innen zu verzehren drohten. Hoffentlich log sie ihre Schwester da nicht gerade an. »Es kann dauern, aber irgendwann wird er akzeptieren, dass du Jägerin bist.«
Elena setzte Eve in der Schule ab, wo sie das Fernbleiben der Schwester entschuldigte und die Verantwortung dafür übernahm, um gleich darauf auf direktem Weg das schicke Stadthaus anzusteuern, in dem Jeffrey sein privates Büro untergebracht hatte. Das Haus war verschlossen, Jeffreys Assistentin nirgendwo in Sicht. Sie machte sich nicht die Mühe, eine Nachricht unter der Tür durchzuschieben – ihr Vater würde sie ohnehin nur allzu bald anrufen –, und war gerade wieder auf dem Weg ins Gildehauptquartier, als ihr Handy klingelte. Offenbar war es ihr heute nicht vergönnt, das Büro aufzusuchen. Noch in der Luft nahm sie den Anruf entgegen. Am anderen Ende meldete sich Sara.
»Ellie, ich weiß, nach allem, was gestern passiert ist, kannst du das wahrscheinlich nicht übernehmen, aber …«
»Ich war gerade auf dem Weg zu dir und wollte fragen, ob du nicht eine Aufgabe für mich hast.«
»Wunderbar! Wir haben nämlich ein ernstes Problem.« Sara holte vernehmlich Luft, ehe sie fortfuhr: »Einer unserer Jäger ist total aus der Spur geraten. Wenn wir ihn nicht aufhalten, haben wir vielleicht bald ein paar Morde am Hals.«
Elena wurden die Hände ganz feucht, ihr Herzschlag beschleunigte sich rasant. Mit zitternden Knien landete sie auf dem nächstgelegenen Dach. Saras Worte hatten eine ganze Kette aus Erinnerungen ausgelöst: Bill James, Elenas Mentor, war ein gefeierter Jäger gewesen – und ein Serienkiller. Einer, der seine verrottende Psyche so gut hatte tarnen können, dass bis zum ersten toten Kind niemand bemerkte, was mit ihm los war. »Wer ist es?«, erkundigte sie sich mit halb erstickter Stimme.
»Darrell Vance.« Keiner ihrer Freunde! Elena wurde vor lauter Erleichterung ganz schwindelig. Es war bestimmt nicht fair, auch nicht richtig, so zu empfinden, aber sie hatte schon einmal einen Freund exekutieren müssen. Bill war in ihren Armen gestorben, sein Blut brannte immer noch heiß auf ihrer Haut. Nie würde sie seine Augen vergessen, die sie bis zuletzt des Verrats angeklagt hatten.
»Ellie.« Er war so verwirrt gewesen, er hatte es
Weitere Kostenlose Bücher