Engelslied
nicht leisten, das Lager wieder ganz neu aufzubauen.«
»Bist du versichert?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Die Beiträge waren zu hoch, der Lage wegen und auch meiner Kundschaft wegen.« Zitternd biss sie sich auf die Unterlippe. »Letzte Woche habe ich zum ersten Mal Gewinn gemacht.«
So vieles von dem, was sich in den letzten drei Tagen in der Stadt abgespielt hatte, war herzzerreißend unfair … und jetzt noch der Untergang der Träume dieser Vampirin, die ihre hundert Jahre abgeleistet, ihren Dienst getan hatte … Rasch traf Elena eine Entscheidung. »Ich stelle dir das nötige Kapital zur Verfügung, gegen eine prozentuale Beteiligung an kommenden Gewinnen, versteht sich«, verkündete sie, wohl wissend, dass sie dieser Marcia das Geld nicht einfach schenken konnte.
Und warum das so war, hatte eine ganz eigene, harte Logik: Ein solches Geschenk hätte den Turm als großzügig dastehen lassen, denn Elena wurde inzwischen nun einmal mit dem Turm gleichgesetzt. Der Turm konnte es sich aber nicht leisten, großzügig zu sein, er musste als rücksichtslos gelten. Alles andere hätte falsche Signale vermittelt. Genauso verhielt es sich mit Raphael, der es sich auch nicht leisten konnte, Elenas Menschlichkeit allzu sehr nachzugeben, wenn das Gleichgewicht der Kräfte in dieser Stadt gewahrt bleiben sollte.
»Sie?« Marcia machte große Augen.
»Ja. Ich muss anfangen, mein Geld zu investieren, und deine Geschäftsidee gefällt mir.« Sie hob die Hand, als Marcia etwas sagen wollte. »Du verstehst aber doch, dass ich deinen Geschäftsplan mit dir durchgehen muss, ja? Ich muss sicher sein können, dass mein Geld hier gut angelegt ist.« So würde ein kluger Investor sich vermutlich ausdrücken.
»Natürlich!« Ein zittriges Lächeln, dieser Marcia lag das Herz in den Augen. »Ich werde die Papiere sofort an den Turm schicken.« Sie verneigte sich erneut, und als sie aufsah, liefen ihr Tränen über beide Wangen. »Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich Ihnen.«
Langsam wurde es Elena peinlich. Zeit, sich wieder der eigentlichen Jagd zuzuwenden. »Wir lassen dir eine Lieferung sauberes Blut zukommen, und du nimmst morgen zur gewohnten Zeit wieder deine Geschäfte auf. Einschließlich der Blutspenden, nur darfst du das hier gespendete Blut nicht verkaufen. Verkauft wird nur Blut, das wir dir schicken, verstanden?«
Ein rasches Nicken.
Bevor Elena fortfahren konnte, kam ihr noch ein Gedanke in den Sinn. »Hängt draußen ein Schild, warum heute geschlossen ist?« Wenn der Träger der Krankheit zufällig vorbeigekommen und misstrauisch geworden wäre, käme er vielleicht nie wieder.
Diese Frage beantwortete Illium: »Am Eingang vorn und an der Spendertür steht:
Dringende Familienangelegenheiten, bin morgen wieder da
.«
Da Vampire oft andere Vampire, mit denen sie zusammen gedient hatten, als Familie ansahen, würde niemand eine solche Ankündigung sonderbar finden. »Läuft hier eine Überwachungskamera?«, wollte Elena von Marcia wissen.
»Nein. Dafür hat das Geld nicht mehr gereicht.«
Ein rascher Blick hinüber zu Illium. Der nickte: Wenn das Café am nächsten Tag seine Türen wieder öffnete, würden Kameras installiert sein. »Du musst streng Buch darüber führen, wer welches Blut gespendet hat«, sagte Elena zu Marcia. »Beschrifte sämtliche Flaschen sorgfältig.«
Der Vampir nickte. »Jemand verkauft verschmutztes Blut«, sagte sie – dumm war die Frau nicht. »Und die Art der Verschmutzung ist gefährlich.« Ehe Elena sie unterbrechen konnte, fuhr sie fort: »Ich werde kein Wort darüber verlieren, und ich versichere Ihnen, dass kein hier gespendetes Blut das Café verlässt.«
»Das hoffe ich«, sagte Elena leise. »Alles andere würde dich teuer zu stehen kommen.«
Erneut bildete sich auf dem Gesicht der Frau eine glänzende Schweißschicht. »Ich lüge nicht, Gemahlin.«
Da war sie wieder, die Angst in den Augen der Frau. Elena war ganz elend zumute. Sie bat Marcia, ihr den Schlüssel zum Café zu überlassen und am nächsten Tag eine Stunde vor der normalen Öffnungszeit hier zu sein.
»Ich habe sie mit Absicht so erschreckt«, sagte sie später zu Illium. Sie hatte zunächst rein instinktiv gehandelt. Das erkennen zu müssen schockierte sie zutiefst.
Illium zuckte nur mit den Achseln. »Die Angst sorgt dafür, dass sie am Leben bleibt.«
»Vielleicht, aber ich will nicht so werden. Ich will andere nicht beherrschen, indem ich Angst verbreite.« Die Vorstellung, die
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