Engelslied
ihr jetzt zur Verfügung stehende Macht könne sie letztendlich korrumpieren, machte Elena ganz krank. »Was, wenn ich in hundert Jahren in den Spiegel schaue und mich sieht Michaela daraus an?« Grausam und launisch und schlichtweg grässlich.
»Meinst du wirklich, das würden wir zulassen?« Illium versetzte ihr grinsend einen Nasenstüber. »Raphael wäre doch der Erste, der dich warnen würde, wenn die Gefahr bestünde, du könntest dich verlieren.«
Wirklich? Da war sich Elena gar nicht so sicher. Der Mann, dem ihr Herz gehörte, sah nichts Falsches an Handlungen, die sie persönlich zutiefst verstörten. Sie
war der Mensch in ihrer Beziehung, nicht Raphael. Er hatte mehrmals betont, sie habe ihn vor dem Abgrund aus Alter und Macht bewahrt. Was würde aus dem Gleichgewicht zwischen ihnen beiden, wenn sie den kommenden Krieg überlebte, nur um unter dem gnadenlosen Druck der Unsterblichkeit zu zerbrechen? Einer Unsterblichkeit, die auf der Macht basierte, die ihr ihre Rolle als Gemahlin eines Erzengels zuschrieb?
Erregt strich sie sich mit der geballten Faust über das Herz. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Ellie!« Er streichelte kurz die Rückseite ihrer Flügel – vorsichtig darauf bedacht, die empfindlichen Stellen auszulassen, aber trotzdem eine intime Geste. »Seit wann gehen wir so formell miteinander um? Frag einfach.«
»Warum hast du mich nie abgelehnt?« Diese Frage lag ihr auf dem Herzen, seit sie von Illiums Vergangenheit wusste. »Warum hast du Raphael nie etwas verübelt?«
Illium war vor Jahrhunderten mit dem Verlust seiner sterblichen Geliebten bestraft worden, nachdem er das größte Tabu gebrochen und ihr Engelsgeheimnisse anvertraut hatte. Raphael hatte aus dem Bewusstsein dieser Frau sämtliche Erinnerungen an den blaugeflügelten Engel und alles, was er ihr erzählt hatte, entfernt, aber nicht nur das: Er hatte Illium seine Federn genommen, ihn zu einem Leben am Boden verurteilt und unter Hausarrest gestellt, bis seine Wunden verheilt waren. Und außerdem hatte Illium auch nach seiner Genesung Abstand zu seiner ehemaligen Geliebten wahren und letztendlich mit ansehen müssen, wie sie sich in einen anderen verliebte und ihr Leben ohne ihn weiterführte.
Als Antwort zog Illium einen kleinen Anhänger aus Metall aus seiner Jeanstasche, dessen Oberfläche im Laufe der Jahrhunderte ganz glatt und rund geworden war, so oft hatte er ihn in der Hand gehabt. Elena wusste auch ohne Erklärung, dass ihm dieser Anhänger von seiner Geliebten geschenkt worden war. »Wann hat dir Raphael von unseren Geheimnissen erzählt?«, wollte er wissen.
Beim Anblick der tiefen Traurigkeit, die der Freund sonst immer unter seiner umwerfenden Lebensfreude zu verbergen vermochte, tat Elena das Herz weh. »Als wir fielen«, flüsterte sie. »Raphael hat es mir gesagt, als wir fielen.« Alles in ihr wehrte sich gegen die Schmerzen, die sie mit diesem Sturz verband. Schmerzen, die nicht nur ihren zerschundenen Leib betroffen hatten, sondern mehr noch ihre Seele. Denn Raphael stürzte damals mit ihr in den Tod.
»Als er dachte, du müsstest sterben und er auch.« Kopfschüttelnd steckte Illium den Anhänger wieder ein, schwarze Haarsträhnen mit blauen Spitzen küssten sein Gesicht. »Eine solche Entschuldigung konnte ich nicht vorbringen. Meine Liebste war jung und sehr willensstark, und sie war zornig, weil ich Geheimnisse vor ihr hatte. Wenn sie zornig war, hat sie sich von mir zurückgezogen. Das konnte ich nicht ertragen. Also habe ich es ihr erzählt.«
Ein trauriges, reumütiges Lächeln bei dem Gedanken an den verliebten jungen Mann, der er einst gewesen war, erschien auf seinem Gesicht. »Ich bin mir sicher, im Laufe der Jahrhunderte haben auch andere Engel ihren sterblichen Geliebten Geheimnisse verraten, und diese Männer und Frauen haben diese Geheimnisse mit ins Grab genommen. Aber ich habe sie einem Mädchen erzählt, das den Mund nicht halten konnte, das anfing, anderen gegenüber im Dorf Andeutungen zu machen.«
Diesmal berührte Elena seine Flügel, dieses seidige, silberblaue Kunstwerk. »Das tut mir so leid.«
»Als Engel kann man es sich nicht erlauben, leicht erpressbar zu sein«, sagte Illium. »Ich liebte sie sehr, liebte sie mit meinem ganzen Wesen, aber ich kannte sie auch tief bis in ihre Seele hinein. Ich wusste, sie hatte nicht den Willen, Geheimnisse für sich zu behalten. Raphael hatte recht, mich zu bestrafen.«
Als er den rechten Flügel ausbreitete und den Arm hob, trat sie
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