Engelslied
in seine Umarmung. Die Umarmung eines Freundes, die sie als Freundin erwiderte. Illium hielt sich kurz an ihr fest. Sie wusste, er rang darum, unter dem Ansturm der Erinnerungen nicht die Fassung zu verlieren.
»Es hat dem Sire sehr wehgetan, mir das antun zu müssen.« Illiums Atem ging heftig und stoßweise. »Ich konnte sehen, wie weh es ihm tat, konnte es spüren. Das ist die größte Schande in meinem Leben: ihn so weit getrieben zu haben, dass ihm keine andere Möglichkeit blieb.«
Vieles von dem, was sie jetzt hörte, war neu für Elena, aber mit Illiums letzter Bemerkung hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Doch es ging noch weiter. »Wenn ich wenigstens zu ihm gegangen wäre«, fuhr der Engel mit den blauen Flügeln fort. »Wenn ich ihm alles erzählt hätte, sobald mir klar geworden war, welchen Fehler ich begangen hatte. Dann hätte er ihre Erinnerungen an die Engelsgeheimnisse leise und unauffällig gelöscht, mich verwarnt und mir geraten, einen solchen Fehler nicht noch einmal zu begehen, woraufhin ich weiterhin frei gewesen wäre, sie zu lieben. Aber das habe ich nicht getan, und nachdem andere von meinem Verstoß gehört hatten, konnte er mir nicht mehr helfen.«
Endlich verstand Elena die ganze Geschichte. Das Herz drehte sich ihr in der Brust um. Ja, Raphael war grausam, wenn es sein musste, aber er beschützte die, die zu ihm gehörten. Es musste ihn ungeheuer viel gekostet haben, Illium nicht nur nicht schützen, sondern dem Freund stattdessen noch Schaden zufügen zu müssen. Ausgerechnet Illium, Kolibris Kind, Sohn eines Engels, den Raphael zutiefst liebte und respektierte, den er mit allergrößter Sanftheit behandelte.
»Was immer ich bezahlt habe«, sagte Illium in die Stille hinein, »ihn hat es doppelt so viel gekostet.«
Voll Kummer über den Verlust, der den Engel mit den blauen Flügeln bis zum heutigen Tag begleitete, und über die Umstände, die zu diesem Verlust geführt hatten, lehnte sich Elena zurück und hob beide Hände, um Illiums Gesicht zu berühren. Aber irgendetwas ließ sie zögern.
»Sei vorsichtig mit Illium, Elena. Er ist verwundbar durch die Menschlichkeit, die du in dir trägst.«
Das Echo von Dmitris Stimme, ganz Sünde und Verführung und Gewalt. Die Erinnerung an den unerwartet ernsten Ausdruck im Gesicht des Vampirs, als er sie kurz nach ihrer Rückkehr nach New York ermahnt hatte, sich Illium gegenüber vorsichtig zu verhalten.
»Ist schon in Ordnung, Ellie.« Illium drückte sie kurz und warf ihr ein knappes Lächeln zu. »Du gehörst dem Sire, und ich würde mir eher die Flügel abreißen, als dessen Vertrauen zu missbrauchen.«
Elena ließ ihre Hand fallen und trat einen Schritt zurück. »Ich will dir nicht wehtun«, sagte sie leise, Zuneigung und Sorge im Blick. Nicht nur, was Illium für sie zu empfinden schien, bereitete ihr Sorgen, sondern auch die Tatsache, dass er immer noch um eine Frau trauerte, die schon vor Jahrhunderten zu Staub geworden war und vorher vergessen hatte, wie unsagbar innig sie geliebt worden war.
Als Sterbliche hatte Elena sich manchmal gefragt, wie gemischte Paare, bei denen der eine sterblich, der andere unsterblich war, wohl damit umgingen. Wie mochte es sein, wenn zwei Liebende nicht zusammen alt wurden, sondern nur der eine alterte, während der andere dem Aussehen nach so jung blieb wie am Tag ihrer ersten Begegnung? Illium trauerte noch – wenn die Liebe echt war, endete der Schmerz für den, der zurückblieb, offenbar nie. Das war ihr vorher so nicht klar gewesen. »Du schleppst schon genug Leid mit dir herum.«
»Leiden würde ich nur, wenn meine Fehler unsere Freundschaft zerstörten.« Endlich tauchte ein leises Lächeln in seinem Gesicht auf, übermalte die Trauer, ließ in den Augen aus flüssigem Gold den gewohnten Schelm aufblitzen. »Soll ich dir von meinen Geliebten erzählen, damit ich dir nicht mehr so leidtue?«
Sie zog spöttisch die rechte Braue hoch. »Geliebte? Gleich im Plural?«
»Damit niemand auf schräge Ideen kommt.« Er zupfte Elena spielerisch am Zopf, ehe er zur Tür ging. »Das Team, das das Blut abholen soll, ist eingetroffen.«
Im Rekordtempo leerte ein mit Handschuhen und Atemmasken ausgestattetes Vampirteam sämtliche Kühlschränke im Lager des Cafés. Elena schloss hinter den Leuten die Tür ab, ließ sich von Illium auf die richtige Flughöhe bringen und richtete ihre Flügel gen Turm. Sie war immer noch wütend auf Raphael, aber das durfte jetzt keine Rolle spielen. Wenn es um
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