Engelslied
die Belange ihrer Stadt ging, waren sie eine Einheit und würden es immer bleiben. Der Schutz der Stadt ging allem anderen vor. Sie wollte ihn über die Lage bei
Blut und Günstig
auf den aktuellen Stand bringen und fragen, warum er den Tatort mit den fünf toten Vampiren so überstürzt verlassen hatte.
Der hell erleuchtete Turm lag wie eine Fackel vor ihr. War Raphael überhaupt dort? Sie griff nach ihrem Bewusstsein.
Raphael?
Die Antwort kam umgehend, aber aus einer gewissen Entfernung.
Es gibt ein Problem, Elena. Michaela ist hier.
15
Ohne Michaela auch nur eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen, wies Raphael Illium an, Elena zu dem Gable House zu begleiten, das die Erzengelfrau gemietet hatte. Er hatte das Haus der fünf toten Vampire verlassen, sobald ihm Späher Michaelas Anwesenheit über seinem Territorium gemeldet hatten, und war ihr entgegengeflogen, um sie zu ihrem Domizil zu geleiten. Ein langer Flug, den er da auf sich genommen hatte, von Michaela als freundliche Willkommensgeste interpretiert. Dabei hatte Raphael nur sichergehen wollen, dass sie keine Armee mitbrachte.
Nein, eine Armee hatte sie nicht dabei. Ihre Begleitung bestand aus einer einzigen Schwadron Engel und einem Vampir, der in einer extra für diesen Zweck konstruierten leichten Kutsche von den Engeln im Flug getragen wurde. Wäre Michaela ihm verzweifelt vorgekommen oder hätte sie ihre Reise mit einem unmittelbar bevorstehenden Übergriff begründen können, dann hätte Raphael erst einmal damit gewartet, heikle Themen anzusprechen. Aber sie schien kein Wässerchen trüben zu können: In ihrem eng anliegenden Anzug, der sich raffiniert an sämtliche Rundungen schmiegte, bewegte sie sich mit der gewohnten opulenten Sinnlichkeit, als wollte sie ihn ständig daran erinnern, dass sie generell für die begehrenswerteste Frau der Welt gehalten werde.
Raphael hätte eher in einem Nest Giftschlangen geschlafen als mit Michaela.
Dem Baby in ihrem Leib wollte er allerdings keinen Schaden zufügen, also hatte er ihr Zeit gelassen, sich auszuruhen und eine Mahlzeit einzunehmen. Aber jetzt war die Schonfrist vorbei. »Ich bin froh, dass du klug genug warst, dich nicht in mein Haus drängen zu wollen«, sagte er.
Ein anzügliches Lächeln. »Ach, es ist unbequem, wenn man nicht auf dem eigenen Besitz wohnen darf! Aber ich weiß doch, wie gern du deine kleine Sterbliche beschützt, und außerdem hat Riker Gefallen an ihr gefunden. Wie hätte das laufen sollen? Wären wir Nachbarn, würde er nächtens durch den Wald streifen. Ihn davon abzuhalten,
wäre unmöglich
.«
Riker würde Elena nicht anrühren. Als der Vampir ihr das letzte Mal zu nahe gekommen war, hatte ihm Raphael einfach das Herz aus dem Leib gerissen und ihn zuckend am Boden liegen lassen. Diese Lektion würde er Michaelas Schmusevampir gern jederzeit wieder erteilen, sollte dieser sie inzwischen vergessen haben. Nur diesmal nicht mit offenem, sondern mit endgültigem Ende. »Bring Riker nicht noch einmal mit auf mein Gebiet, wenn dir sein Leben lieb ist.«
»Oh! Ich wollte dich wirklich nicht erzürnen!« Fast schnurrend machte sie Anstalten, ihm ihre Hand auf die Brust zu legen.
Er packte sie noch rechtzeitig am Handgelenk. Zierliche Knochen, die so zerbrechlich wirkten – aber jedes von Michaelas Worten schien ihm wie eine in Honig getauchte Lüge. Rein aus dem Instinkt heraus aktivierte Raphael seine Heilkräfte, und durch den körperlichen Kontakt floss ihm das Wissen über den Zustand seines Gegenübers zu. Er spürte Michaelas körperliche Stärke, den kränklichen, säuregrünen Fleck, den sie in der Brust trug, seit ihr Uram den Brustkorb aufgerissen hatte, um mit ihrem vom Blut nassen Herzen zu spielen … spürte auch ihren leeren Uterus.
Ohne Vorwarnung ließ er sie los, so ruckartig, dass sie ein paar Schritte zurückstolperte. »Fass mich nicht an, das steht dir nicht zu. Hüte dich, noch mehr Grenzen zu überschreiten als die, die du überschritten hast, als du ohne Einladung mein Gebiet betreten hast.« Nur eine einzige, dickköpfige, intelligente und gefährliche Frau hatte das Recht, Raphael zu berühren.
Über schmalen Wangenknochen spannte sich zarte, braune Haut. Michaela war Zurückweisungen nicht gewohnt, sie waren ihr unverständlich und zuwider, ging sie doch davon aus, dass jedes männliche Wesen nicht anders konnte, als sie anzubeten. »Ich fand, ich sollte meinen Fall lieber persönlich vorbringen«, verteidigte sie sich mit neckisch schräg
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