Engelslied
nach dem Ball warten müssen, damit niemand misstrauisch wird. Aber wahrscheinlich geht doch der Schild wieder hoch, sobald alle Übernachtungsgäste eingetroffen sind?« Isabel nickte. »Damit steigt dann die Temperatur hier in der Stadt«, fuhr Elena fort. Und Kahla würde anfangen, zu verwesen.
»Über angemessene Kühlvorrichtungen verfügt Amanat selbst nicht«, sagte Isabel. »Aber zwei Stunden weit Richtung Osten liegt ein Fischerdorf. Ich werde die Fischer bitten, einen ihrer Kühllastwagen in den Wald zu fahren. An eine Stelle, wo niemand hören oder sehen kann, was darin vorgeht.«
So würde Kahla allein in einem Kühlwagen ruhen, während ihre Stadt tanzte, dachte Elena.
»Es tut mir leid, Mutter.« Auf ihrem Weg durch die Stadt begegneten Raphael und Caliane viele liebevolle Blicke, oft von einem schüchternen Lächeln begleitet. »Naasir hat mir von eurem Verlust erzählt.«
»Kahla war ein so süßes Mädchen, lebhaft und wissbegierig wie ein kleines Vögelchen.« Caliane klang tief betrübt. »Es ist feige, ein unschuldiges Leben so zu beenden!« Aus dem Kummer war Zorn geworden. »Das ist kein offener Kampf, das ist feige und unehrenhaft!«
Womit seine Mutter, schoss Raphael durch den Kopf, soeben genau dasselbe gesagt hatte wie kürzlich die Jägerin, die Gemahlin ihres Sohnes. Was ihm Caliane natürlich nie glauben würde. »Wir werden den Verbrecher aufspüren und alle wissen lassen, was für ein Feigling er ist.« Bei den eigenen Leuten Freiwillige zu infizieren war eine Sache. Aber eine junge Frau zu missbrauchen, die von den laufenden Kämpfen gar nichts wusste, das war empörend.
»Ja, das wirst du, mein wunderschöner Sohn.« Calianes Ausdruck war weicher geworden, als sie den Kopf in den Nacken legte, um zu ihrem Sohn aufzusehen.
Ein paar Minuten lang gingen die beiden schweigend nebeneinanderher.
Aber es gab eine Frage, die er ihr einfach stellen musste. Weil sie als Einzige alt genug war, um die Antwort zu kennen, und weil sie ihn nie an irgendjemanden verraten würde. »Hast du während der letzten Kaskade je von einem Erzengel gehört, der in seinen Träumen Flüsterstimmen hörte?«
Zugegeben: Das war eine merkwürdige Frage. Aber seine Mutter wirkte nicht überrascht, lediglich nachdenklich. Er konnte förmlich sehen, wie sie die vielen Seiten ihrer schon Ewigkeiten andauernden Existenz umblätterte. »Nein«, sagte sie schließlich. Sie war neben einer vollständig mit leuchtenden rosa Blüten bedeckten Wand stehen geblieben und sah ihn fragend an. »Träumst du denn von flüsternden Stimmen?«
Die Besorgnis in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Raphael wusste auch, warum sich seine Mutter sorgte. »Vater hat Flüsterstimmen gehört, nicht wahr?«
Uralter, dunkler Kummer lag in ihrem Blick, anders als der durch den Verlust von Kahla verursachte. Eine Traurigkeit, die Raphael bis tief ins Herz drang. »Mein geliebter Nadiel. Wie stolz wäre er jetzt, wenn er sehen könnte, was aus dir geworden ist. Du verkörperst sein Bestes und auch meins, das hat er immer gesagt.«
Caliane war seiner Frage ausgewichen, eine Antwort hatte sie ihrem Sohn aber dennoch gegeben. Es stimmte, sein Vater hatte in seinem Wahn Stimmen gehört. Und jetzt hörte Raphael sie auch.
22
Vierundzwanzig Stunden nach ihrer Rückkehr vom Tempel kam sich Elena vor wie in einem leicht surrealen Drama: Sie kleidete sich zu einem großen Ball um, während nicht weit von der Stadt entfernt, gut versteckt, damit die einfliegenden Engel ihn nicht entdeckten, ein Kühllaster mit einer Leiche stand. In der Stadt drängten sich bereits jede Menge Engel, überhaupt herrschte allgemein Unruhe und freudige Erregung, da die meisten der Bewohner nichts von Kahlas Tod ahnten.
Caliane hatte beschlossen, die traurige Nachricht erst nach dem Ball bekannt zu geben. Ihre Leute, sagte sie, hatten hart für die Ballnacht gearbeitet, es wäre nicht fair, ihnen jetzt alles zu verderben. Außerdem wollte sie verbreiten lassen, Kahla sei tragisch verunglückt und habe sich das Genick gebrochen. Die Entscheidung, die junge Frau im Herzen eines Vulkans zu beerdigen, blieb allerdings bestehen. Sie sollte aber in Begleitung von Freunden und Familie dorthin reisen können, eine letzte Gelegenheit, sich von ihr zu verabschieden.
»Werden die Leute sich nicht wundern und Fragen stellen, warum sie in einem Vulkan beerdigt wird?«, erkundigte sich Elena. Naasir war gerade da gewesen, um Raphael über die letzten Entscheidungen in Bezug
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