Engelslied
Frau vermisst?«, fragte sie, während sie einige Stufen hinunterkletterte, um ihre Flügel der Sonne entgegenhalten zu können. Die Wärme sollte die kalte Trauer aufsaugen, die sie in diesem doch eigentlich als Hort ruhiger Gelassenheit erbauten Tempel überfallen hatte.
»Höchstens acht Stunden.« Isabel war dieselbe Traurigkeit anzuhören. »Amanat ist eine kleine, sehr überschaubare Stadt, hier hält man zusammen und achtet aufeinander. Die Tote hat mit zwei Cousinen zusammengewohnt, die Alarm schlugen, als sie nicht zum Abendessen nach Hause kam.«
»War sie denn vorher gesund?«
»Ihr Körper hat länger gebraucht, um sich ans Wachsein zu gewöhnen, als bei den meisten anderen.« Isabel hatte sich zu Elena gesellt, um ebenfalls ihre Flügel zu sonnen. »Deswegen hatte sie seit mehreren Tagen niemanden mehr genährt, obwohl sie eine Sterbliche war, die nichts dagegen hatte, ihre Lebenskraft mit unseren Blutsverwandten zu teilen.«
Isabel und Naasir wussten über die in New York in Bezug auf die Krankheit gewonnenen Erkenntnisse Bescheid, das ging aus Isabels Worten hervor. »Es hat sich also niemand sonst infiziert?« Ein rascher Seitenblick: Isabel nickte. »Dann hatte der Täter wahrscheinlich vor, sie als Trägerin der Krankheit einzusetzen, aber ihr Körper war zu schwach, um mit dem Virus fertig zu werden.«
Isabels Blick wurde hart wie Stahl. »Wäre sie stärker gewesen, dann hätte sie vielleicht von der Krankheit zunächst gar nichts mitbekommen. Hätte in dem Glauben, sie zu nähren, andere infiziert.«
So traurig die Situation auch sein mochte, eines schien sie wenigstens zu bestätigen: Die Krankheit konnte nur durch den Austausch von Blut weitergegeben werden und außerdem nur durch eine bestimmte Menge. Keir hatte also recht gehabt. Sonst müsste sich der Erzengel, der hinter der Sache steckte, nicht mit einer solch langsamen und doch auch recht umständlichen Methode der Infektion herumschlagen, bei der er oder sie noch dazu in direkten Kontakt zum als Träger auserkorenen Menschen treten musste.
Obwohl ein Erzengel ja das Bewusstsein eines Menschen um bestimmte Erinnerungen erleichtern konnte. Eine direkte Kontaktaufnahme stellte so, aufs Ganze gesehen, kein großes Risiko dar, war höchstens unbequem. »Halten sich die Leute von Amanat auch manchmal außerhalb der Stadtmauern auf?«
Isabel nickte entschieden. »Caliane ermutigt sie dazu, die neue Welt zu erforschen. Aber sie gehen fast immer in Gruppen und kehren auch gemeinsam zurück. Kahla war da mutiger, auch wenn sie relativ schwach gewesen sein mochte. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie auch allein spazieren ging.«
Kahla.
Den Namen der Toten zu kennen, ein wenig mehr über sie zu erfahren, machte alles nur noch schlimmer.
Hinter ihnen räusperte sich Naasir, der bislang geschwiegen hatte. »Das Timing kann kein Zufall sein.«
»Nein.« Elena sah ihre Begleiter fest an. »Niemand darf von der Sache hier erfahren.« Der Erzengel, der hinter dem Anschlag steckte, sollte glauben, sein Versuch, die Stadt zu infiltrieren, sei fehlgeschlagen. »Außerdem sollten wir dafür sorgen, dass Calianes Leute momentan die Stadt lieber nicht verlassen.« Der Anschlag war feige und hinterlistig gewesen. Wer immer dahinterstecken mochte, würde wohl kaum wagen, einen von Calianes Leuten in aller Öffentlichkeit zu entführen, um ihn zu infizieren. Isabel hatte gesagt, dass die Leute in Amanat aufeinander achtgaben.
»Niemand wird die Stadt verlassen.«
Elena fragte lieber nicht, wie Naasir das bewerkstelligen wollte. Der Vampir war nicht ohne Grund einer der Sieben, mochten ihre Warnsignale auch noch so flackern, sobald sie ihn zu Gesicht bekam. Diese Sieben, die Männer, denen Raphael am meisten vertraute, hatten eines gemeinsam: Sie taten ihre Arbeit, und sie taten sie gut. Das hatte Elena inzwischen zur Genüge feststellen können.
»Ich werde still und heimlich jeden untersuchen, der in den letzten drei Tagen außerhalb der Stadtmauern war«, sagte Isabel. »Für den Fall, dass unser Feind mehr als ein Opfer berührt hat.« Sie warf einen Blick zurück zum Eingang des Tempels. »Es gibt einen Vulkan hier in der Nähe. In der Nähe, wenn man fliegen kann, heißt das. Ich kann Kahla zu ihrer letzten Ruhestätte bringen, sobald es Nacht geworden ist.«
Elena schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, Keir muss sich die Leiche erst ansehen.« Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß allerdings auch nicht, wie wir das machen sollen. Er wird bis
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