Engelslied
die führte der unheimliche Vampir, der ja doch vielleicht keiner war, Elena hinauf. Seine nächsten Worte klangen derart pragmatisch und zivilisiert, dass sie kaum glauben mochte, demselben Mann zuzuhören, der ihr gerade eiskalt berichtet hatte, er hätte Herz und Leber eines Engels verspeist.
»Ich habe diese Entdeckung erst vor ein paar Stunden gemacht und bisher noch nichts unternommen, da der Tempel am Rande der Stadt liegt und sich leicht überwachen lässt. Ich wollte erst die Ankunft des Sire abwarten.«
Bei Naasirs Worten raschelte es leise, und ein Engel, eine Frau mit weißen Flügeln und zartgrünen Handschwingen, trat aus den Schatten. Sie war ähnlich gekleidet wie Elena, nur trug sie keine Lederhose, sondern eine Hose aus festem braunem Stoff und dazu ein weites, flatterndes Hemd, statt der von der Jägerin bevorzugten eng sitzenden Tops. Noch waren Elena die Flügel ungewohnt, sie mochte sich nicht, wenn es zum Kampf kam, mit ihnen in schicker Kleidung verheddern.
»Gemahlin!« Die Engelsfrau neigte den Kopf. »Ich bin Isabel.«
Dann hatte Naasir also seine Partnerin gebeten, hier Wache zu schieben und ihm im Notfall Rückendeckung von oben zu geben. Isabel war bei Elenas vorherigen Besuchen nicht in Amanat gewesen. Elena streckte ihr die Hand hin. »Ich bin Elena.«
Lächelnd schüttelte Isabel die ihr gebotene Hand. Sie hatte außergewöhnlich schöne braune Augen und schwarze, im Nacken zu einem eleganten Knoten geschlungene Haare, dazu eine Haut wie lohfarbenes Gold, die Elena an die Gemälde alter ägyptischer Gottheiten erinnerte, die sie irgendwo einmal gesehen hatte. »Ich habe dafür gesorgt, dass nichts angerührt wird«, sagte Isabel. »Es war nicht schwer. Alle, die herkamen, konnten leicht überredet werden, sich anderswo zu vergnügen.«
Kurz frischte die Brise auf, die durch den Tempel wehte. Elena sah, dass sich Isabels Bluse leicht bewegte, während ihre Sinne in den höchsten Gang schalteten.
Der Geruch von Fäulnis … Verwesung … und darunter der nach Krankheit.
Sie brauchte weder Isabel noch Naasir, um sich den Weg zeigen zu lassen, sie musste nur ihrer Nase folgen. Im Gebäude sorgten filigran zarte Risse im Dach für ein sanftes Muster aus Licht und Schatten zu ihren Füßen. Zu jeder anderen Zeit wäre Elena hier langsam gegangen, wäre oft stehen geblieben, um Fotos zu machen, die sie später Eve hätte zeigen können, denn ihre jüngste Halbschwester war überaus fasziniert von der alten Stadt, die so weit von ihrer ursprünglichen Heimat entfernt nach langem Schlaf wieder zum Leben erwachte.
Heute jedoch ließ sich Elena durch nichts aufhalten. Sie entdeckte die Frau ungefähr in der Mitte des Tempels, wo sie sitzend mit dem Rücken an einer der mit aufwendigen Schnitzereien verzierten Säulen lehnte. Ihre rechte Hand ruhte in einem Korb voll verwelkter Blumen, der neben der Toten stand, als hätte die Verstorbene ihn in letzter Sekunde noch abgestellt, als sie merkte, dass sie zu schwach war, um noch weiterzugehen. Die Frau trug ein Kleid aus dunkelroter Seide, das ihre Weiblichkeit hervorhob, ohne aufreizend zu wirken. Die leuchtende Farbe betonte den cremefarbenen Teint ihres zerstörten Gesichts.
Der Geruch, der sie umgab, war schwach, aber eindeutig. Es war kalt in der Stadt, das Opfer lag mehr oder weniger so da, wie es gestorben war, von Verwesung noch keine Spur.
Elena holte tief Luft, um sich gegen die heftige Mischung aus Mitleid und Zorn zu wappnen, die sie zu übermannen drohte, als sie sich neben der Leiche hinkniete und ihre Flügel hinter sich auf dem glatten, kalten Steinfußboden ausbreitete. Ein einziger Blick genügte: Die Pusteln auf der nackten Haut der Toten waren zwar zahlenmäßig außergewöhnlich gering, aber dennoch klar erkennbar mit denen identisch, die sie bei den New Yorker Opfern gesehen hatte. Weitere Verletzungen vermochte sie mit dem bloßen Auge nicht zu entdecken, aber da konnte sie sich natürlich auch täuschen.
Beim Aufstehen überkam die Trauer sie dann doch. Wie eine von einem Kind achtlos fortgeworfene Puppe lag das Opfer da vor ihr. Eine schöne junge Frau, die tausend Jahre geschlafen hatte, nur um sterben zu müssen, noch ehe sie die neue Welt, in der sie erwacht war, richtig hatte entdecken können. Elena konnte nur hoffen, dass sie im Tod ihren Frieden gefunden hatte.
Sie ließ sie dort sitzen, ließ sie weiterschlafen. Sie selbst trat vor den Tempel, wo Isabel und Naasir auf sie warteten. »Wie lange wurde die
Weitere Kostenlose Bücher