Engelslieder
Rückspiegel traf sie Bens Blick. “Wie sieht sie aus? Molly, meine ich. Jetzt, wo sie so viel älter ist.”
Autumn verspürte einen Stich im Herzen. Sie wusste, wie furchtbar das für Ben war – die neuerliche Suche nach seiner Tochter, die Angst, sie nicht zu finden.
“Na ja, sie ist jetzt zwölf, also kein kleines Mädchen mehr. Ihre Gesichtszüge sind etwas erwachsener.”
“Noch nicht ganz zwölf”, korrigierte Ben sie. “Erst am ersten August.”
“Natürlich, das habe ich vergessen.” Sie schloss die Augen und versuchte, das Bild heraufzubeschwören, das sie so häufig in ihren Träumen gesehen hatte.
“Sie hat immer noch große Ähnlichkeit mit Katie. Ihre Lippen sind etwas voller, ihre Wangenknochen etwas ausgeprägter. Sie ist bald ein Teenager und hat weniger Babyspeck im Gesicht. Aber du würdest sie trotzdem sofort als deine Tochter wiedererkennen. Ohne den geringsten Zweifel.”
Bens Kehlkopf bewegte sich auf und ab. “Mein Gott, ich möchte sie so gern nach Hause holen.”
“Wir kommen ihr doch langsam näher, Ben. Stück für Stück.”
Nur leider waren sie immer noch nicht schlauer als vorher. Sie hatten nach wie vor keine Ahnung, wo sie nach ihr suchen sollten.
Das wusste Autumn genauso gut wie Ben.
24. KAPITEL
A utumn lag in Bens riesigem Bett. Es war erstaunlich bequem: Die Matratze war dick und nicht zu hart, die teure Baumwollbettwäsche weich wie Seide. Doch obwohl es so geräumig war, schliefen sie beide auf derselben Seite, Bens muskulöser Körper presste sich an ihren, eines seiner behaarten Beine um ihre geschlungen. Sie nahm den Geruch von Parfum und Mann war, wandte ihm das Gesicht zu und vergrub die Nase noch etwas tiefer im Kissen.
Sie wusste nicht genau, wie er sie nach ihrer Rückkehr dazu überredet hatte, zu bleiben und nicht in ihre Wohnung zu fahren, aber sie war da, befriedigt von ihrem Liebesakt, schlaftrunken und kurz davor, einzuschlafen.
Sie wusste, dass sie nicht hätte bleiben sollen. Es war schlichtweg dämlich, sich so sehr auf einen Mann wie Ben einzulassen. Er war ein reicher Playboy, der die aufregendsten Frauen haben konnte. Im Augenblick brauchte er sie. Sie war wichtig für ihn, um seine Tochter zu finden. Im Augenblick waren ihre Leben miteinander verbunden, aber irgendwann hätte das – so oder so – ein Ende. Sie sagte sich, sie könne damit umgehen, wenn es so weit wäre. Sie war eine Überlebenskünstlerin. Schon immer gewesen.
Sie lauschte Bens regelmäßigen Atemzügen, und ihre Augenlider wurden schwer. In der nächsten Sekunde fiel sie in einen bodenlosen, tiefen Schlaf. Irgendwann später in der Nacht begann sie zu träumen.
Im Schlaf runzelte sie die Stirn, als die Bilder in ihrem Kopf Gestalt annahmen. Es waren andere Bilder als zuvor. Sogar das Haus war ein anderes, wenn sie in der Ferne auch die Berge sehen konnte. Sie befand sich im Wohnzimmer. Dort standen Polstermöbel, ein Sofa und Sessel, alle von fransigen, braun geblümten Überwürfen bedeckt, ein Stickmustertuch mit Kreuzstichen hing an der Wand, und ein antiker Schrank stand in der Ecke. Sie konnte in das Esszimmer schauen. Auf einem Mahagonitisch von Duncan Fyfe lag eine weiße Häkeldecke. Sechs passende Stühle standen darum.
Dann hörte sie Geräusche, Stimmen. Sie konnte nicht verstehen, was sie sagten. Von oben hörte sie, wie Möbel bewegt wurden, wie sie über den Boden schabten. Eine Lampe zerschmetterte an einer Wand im Obergeschoss. Dann schrie eine Frau, ein schrilles, verängstigtes, beinahe hysterisches Schreien.
Ein Schauder lief Autumn durch den Körper, als die Schreie lauter wurden. Dann war sie auf einmal oben, im Schlafzimmer. Zwei Männer mit Skimasken standen über der zu Tode erschrockenen jungen Frau, die auf dem Bett lag. Sie war verletzt, hielt sich die Brust, und hellrotes Blut sickerte in die Laken. Autumn sah rote Tropfen auf dem Schlachtermesser, das einer der Männer in der Hand hielt.
Sie wand sich auf der Matratze und verkniff sich ein Schreien, als sie plötzlich an Molly dachte und fürchtete,
sie
könnte die junge Frau auf dem Bett sein,
sie
könnte diejenige sein, die angegriffen wurde. Dann sah sie das Gesicht der Frau. Sie hatte blonde Haare, aber ihre Augen waren braun.
Nicht Molly. Nicht Molly.
Keine der Frauen, die in dem Haus in ihren Träumen lebten. Autumn wollte erleichtert aufatmen. Sie spürte Tränen, die ihr aus den Augenwinkeln liefen, doch da lag immer noch die panische junge Frau vor ihren Angreifern, und
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