Engelslieder
ihn beide vor den Entführungen gesehen haben. Das sollte reichen, um sein Interesse zu wecken. Wenn dieser Fall eintritt, kümmere ich mich um Joanne, Katie und den Rest der Familie. Bis dahin möchte ich lieber abwarten.”
Rossi nickte. “In Ordnung. Dann warten wir. Sie fahren nach Idaho und ich in den Norden. Der Kerl wurde zuletzt in Burlington gesehen, richtig? Selbst wenn es schon Jahre her ist, es ist immerhin ein Anfang. Ich werde nach Norden bis Bellingham fahren und dann einige der kleineren Städte in der Umgebung abklappern. Ich nehme Kopien der Phantomzeichnung mit und zeige sie herum. Vielleicht finde ich ja jemanden, der ihn kennt.”
Ben nickte. “Klingt gut. Dann sprechen wir am besten am Montag wieder.”
Montag – das schien noch meilenweit entfernt zu sein.
Der lange Weg nach Idaho führte durch das gewaltige Kaskadengebirge, über breite Streifen Ackerland im Herzen des Staates, durch die vom Kuhdorf zur Stadt gewachsene Stadt Spokane und weiter hinauf bis nach Sandpoint. Es hätte eine schöne Fahrt sein können, hätten die schweren Gedanken an Molly und die kleine Ginny ihnen nicht den Sinn für diese Schönheit geraubt.
Ben nahm die Autobahn 90 Richtung Osten, das war die schnellste Route. Dennoch waren sie erschöpft, als sie nach knapp fünfhundert Kilometern die pittoreske Kleinstadt Sandpoint erreichten, die nur achtzig Kilometer südlich der kanadischen Grenze lag.
Es war eine dieser typisch amerikanischen Städte, die dank eines Weltklasse-Skigebietes am Rande der Stadt blitzschnell von den Touristen entdeckt worden war. Sie konnte sich eines hübschen Sees, der ihr als malerische Kulisse diente, und einer von altertümlichen Häusern gesäumten Hauptstraße rühmen. Viele Gebäude waren zu charmanten Restaurants und gemütlichen Boutiquen umfunktioniert worden.
Ben hatte ein Zimmer im Best Western reserviert, das nicht besonders schick war, aber einen fantastischen Blick auf den Lake Pend Oreille und die umliegenden Berge bot. Müde von der Fahrt aßen sie im Restaurant des Motels und gingen kurz danach zu Bett.
Autumn träumte in der Nacht nicht, oder falls doch, erinnerte sie sich nicht daran. Sie hätte froh darüber sein können, doch stattdessen war sie besorgt. Was, wenn sie keine neuen Informationen mehr erhielt? Was, wenn Molly etwas zugestoßen war?
Sie teilte ihre Gedanken nicht mit Ben, aber sie war fast sicher, dass er sich dasselbe fragte. Als sie bei Kaffee und Gebäck im Restaurant neben der Lobby saßen, sprach er es aus: “Du hast letzte Nacht durchgeschlafen.”
“Das kommt schon mal vor. Ich träume nicht immer.”
“Nein, aber normalerweise träumst du, wenn ich bei dir bin.”
Seufzend strich sie sich das Haar zurück. “Ich weiß. Vielleicht war ich einfach so müde, dass ich nicht aufgewacht bin.”
“Das könnte natürlich sein.”
Nach dem leichten Frühstück machten sie sich auf den Weg zur ihrer Zehn-Uhr-Verabredung mit den Purcells. Ihr Haus stand in der Pine Street, einer von Bäumen gesäumten Straße in einer älteren Wohngegend. Es war ein altes weißes, mit Holz verkleidetes Haus mit einer großen, überdachten Veranda. Wie das Haus, aus dem Molly entführt worden war, lag es unweit der Schule, und Autumn fragte sich, ob das bei der Entführung irgendeine Rolle gespielt hatte.
“Da wären wir also.” Ben klingelte, und wenig später öffnete Mr. Purcell die Tür. Jack, wie er sie bat, ihn zu nennen, war ein Mann Anfang dreißig mit kränklicher Gesichtsfarbe und sandfarbenem Haar. Er trat einen Schritt zurück und bat sie herein.
“Lange Fahrt von Seattle bis zu uns”, bemerkte Jack, als sie ins Wohnzimmer gingen.
“Ja, ziemlich”, erwiderte Ben. “Aber die Landschaft ist wirklich herrlich.” Nach dem ersten förmlichen Small Talk gingen sie in die Küche und setzten sich an einen runden Eichentisch. Laura Purcell stand am Tresen neben dem Herd, als sie hereinkamen. Sie war ungefähr in Autumns Alter, Ende zwanzig, und hatte blonde Haare. Sie war viel zu dünn, und ihre Hand zitterte, als sie die Kaffeebecher vor ihnen auf den Tisch stellte.
“Ich bin Autumn, und das ist Ben”, sagte Autumn, in der Hoffnung, die Frau würde sich dann ein wenig entspannen.
“Ich bin Laura. Schön, Sie kennenzulernen.”
Die Küche war – wie auch der Rest des Hauses – einfach eingerichtet, mit Arbeitsflächen aus Holz und Linoleumfußboden. Beim Gang durch den Essbereich waren Autumn die alten Buntglas-Einbauschränke
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