Engelslieder
… ich erinnere mich, dass ich ihn an jenem Morgen schon früher gesehen habe. Ich weiß noch, dass ich dachte: Der ist aber sportlich. Er joggte die steilen Hügel hinauf und hinunter. Er hatte kein T-Shirt an, und an seinem Körper war kein Gramm Fett zu sehen. Er sah extrem fit aus.”
Ben warf Autumn einen kurzen Blick zu. “Noch etwas?”, fragte er dann.
“Nein, das ist alles, woran ich mich erinnere.”
“Vielen Dank, Mrs. Purcell”, sagte Autumn und stand auf. “Sie waren uns eine große Hilfe.”
Ben wandte sich an Jack: “Ich brauche noch die Namen und Adressen der Teilnehmer des Campingausflugs – von der anderen Betreuerin und den Mädchen.”
“Glauben Sie wirklich, dieser Kerl könnte Ginny entführt haben?”, fragte Jack.
“Ich halte es für möglich, ja. Nur bislang haben wir nicht genügend Beweise. Wir müssen abwarten, ob die anderen, die ihn gesehen haben, ihn auch auf dem Phantombild wiedererkennen.”
Purcell verschwand und kam mit einer Mitgliederliste der örtlichen Wichtelgruppe und deren Anschriften wieder. Die Namen derjenigen, die an dem Zeltausflug teilgenommen hatten, hatte er mit einem Häkchen markiert.
“Danke”, sagte Ben und nahm die Liste, während Jack die beiden zur Tür brachte.
Laura Purcell stellte sich neben ihren Mann. “Bitte … Wenn Sie etwas herausfinden, irgendetwas …”
Ben nickte. “Dann geben wir Ihnen sofort Bescheid, versprochen.”
Die Tür schloss sich hinter ihnen. Autumn atmete tief durch. “Glaubst du wirklich, der Typ auf dem Campingplatz war unser Mann?”
“Ich werde Rossi mit der Befragung der Leute auf Purcells Liste beauftragen. Mal sehen, was die zu sagen haben. Ich persönlich glaube, dass er es war. Ich vermute, er sieht ein bestimmtes kleines Mädchen, und sofort setzt sein Raubdrang ein. Womöglich passiert es jahrelang überhaupt nicht, aber dann wird er durch irgendetwas ausgelöst. Vielleicht war er auch auf der Pirsch, weil Molly jetzt älter ist. Alle Mädchen sind blond und blauäugig. Und alle sind hübsch. Er guckt sich sein Opfer aus und klügelt einen raffinierten Entführungsplan aus. Und bisher ist ihm ja auch niemand auf die Schliche gekommen.”
“Er ist klug und sportlich. Das passt zu seiner Naturliebe.”
“Finde ich auch.”
“Aber auch kluge Menschen machen Fehler.”
Bens Kiefermuskulatur zuckte. “Dann hoffen wir mal, dass er dieses Mal einen gemacht hat.”
Sie machten sich auf den langen Rückweg nach Seattle. Autumn versuchte, sich zu entspannen und die Landschaft zu genießen, aber das war nicht einfach. Ben war genauso angespannt wie sie. Bei einem Zwischenstopp rief er Pete Rossi auf dem Handy an.
“Wie geht die Suche voran?”, erkundigte er sich.
Offenbar hatte Pete nichts in Erfahrung gebracht, denn Ben sagte: “Das ist schade. Hören Sie, wir haben einen neuen Job für Sie. Sie müssen nach Sandpoint fahren.” Er erzählte, was sie bei dem Gespräch mit den Purcells herausgefunden hatten, und bat Pete, die Identifizierung, die Laura Purcell anhand der Zeichnung vorgenommen hatte, durch die anderen Campteilnehmerinnen bestätigen zu lassen.
“Wenn wir Lauras Aussage verifizieren können, haben wir endlich etwas, womit wir zur Polizei gehen können, und nicht länger nur ein Männergesicht aus einem Traum.”
Ben legte auf und lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze. “Rossi findet, wir sollten uns an
Vermisst
, diese Fernsehsendung, wenden. Ich habe ihm gesagt, er soll Grayson anrufen und die Sache ins Rollen bringen.”
“Selbst wenn die Produzenten anbeißen, wird es eine Weile dauern, bis die Show fertig ist.”
“Was mir Zeit gibt, meine Familie darauf vorzubereiten.” Er lenkte den Wagen wieder auf die Fahrbahn, heftete die Augen auf die Straße und schien die pinienbedeckten Berge überhaupt nicht wahrzunehmen, die den südwärts führenden Highway säumten, der sie zurück zur Abzweigung auf die Autobahn 90 brachte.
“Die Purcells tun mir leid”, sagte er. “Ich weiß, was sie gerade durchmachen. Ich hätte ihnen so gerne etwas mehr Hoffnung gemacht.”
“Aber das konntest du nicht, noch nicht. Und wer weiß – vielleicht ist es auch besser so.”
Autumn hatte recht. Wenn sie die Mädchen niemals fänden, würde falsche Hoffnung den Schmerz noch größer machen. Sie starrte aus dem Fenster, während der Wagen über die Autobahn düste, an einer Steigung einen langsamen Lkw überholte und sich dann wieder in den lichten Verkehr einreihte.
Im
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