Engelslieder
aufgefallen. Sie schätzte das Haus auf mindestens sechzig Jahre, doch es war in einem einwandfreien Zustand und makellos sauber.
“Nimmt einer von Ihnen Zucker oder Milch?”, fragte Laura. “Ich habe auch aromatisierte Sahne im Kühlschrank.”
“Das wäre toll, danke.” Autumn beobachtete, wie die Frau steif durch die Küche stakste, als könnte sie sich kaum auf den Beinen halten. Sie konnte sich vorstellen, was Laura Purcell durchgemacht hatte: den grausamen Verlust ihres kleinen Mädchens und die quälenden Gedanken daran, was mit ihm geschehen sein könnte und was das Kind vielleicht auch jetzt noch erleiden mochte. Schließlich nahm Laura neben ihrem Ehemann Platz.
“Ich weiß, was Sie jetzt durchmachen”, wandte Ben sich vorsichtig an beide. “Ich habe meine Tochter Molly vor sechs Jahren verloren. Sie war damals ein Jahr jünger als Ihre kleine Ginny.”
Jack Purcell klammerte sich mit den langen Fingern an seinen Becher. “Ich fürchte, ich verstehe immer noch nicht, weshalb Sie hier sind. Sie haben Ihre Tochter am Telefon erwähnt. Aber was hat das Verschwinden Ihres Kindes vor sechs Jahren mit meinem Mädchen zu tun?”
Autumn griff nach der braunen Mappe, die sie auf den Tisch gelegt hatte. Sie schlug sie auf und schob das Bild des blonden Mannes zu Jack hinüber.
“Ich wünschte, die Zeichnung wäre deutlicher und in Farbe, aber besser konnten wir es nicht machen. Der Mann ist blond, durchschnittlich groß und hat eine normale Figur. Seine Augen sind hellblau.”
Ben zeigte auf die Zeichnung. “Dieser Mann hat wenige Tage vor der Entführung meiner Tochter mit meiner damaligen Frau gesprochen. Wir wüssten gern, ob er Ihnen bekannt vorkommt … ob Sie oder Ihre Frau ihn vielleicht gesehen haben, bevor Ihre Tochter verschwand.”
Das Ehepaar wechselte einen Blick und fing dann an, das Bild zu studieren. Mehrfach reichten sie es untereinander hin und her.
“Wir halten es für möglich, dass dieser Mann etwas mit den beiden Entführungen zu tun hat”, fügte Ben hinzu. “Vielleicht ist er sogar der Täter. Haben Sie ihn irgendwo schon mal gesehen?”
Laura Purcell sah ihren Ehemann an. “Ich … ich bin nicht sicher. Er sieht ja ganz gewöhnlich aus, aber …”
Autumn beugte sich vor. “Aber was, Mrs. Purcell?”
“Aber ich glaube, das könnte der Mann sein, der uns geholfen hat, einen Bären von unserem Zeltlager am See zu verscheuchen. Es war ein zweitägiger Ausflug der Pfadfinderinnen – der Wichtelgruppe, das sind die Sechs- bis Achtjährigen. Das war zwei Wochenenden vor Ginnys Verschwinden.” Ihre Augen füllten sich mit Tränen. “Er wirkte so sympathisch.”
“Erzählen Sie uns von dem Tag”, sagte Ben schnell, um zu vermeiden, dass Laura mit den Gedanken abschweifte. “Wer war sonst noch da?”
Sie atmete stockend ein. “Also, wir waren zwei erwachsene Gruppenführerinnen und sechs Mädchen. Wir wollten gerade frühstücken, als ein Schwarzbär in unser Camp marschierte. Die Mädchen schrien, warfen mit Sachen nach dem Bären und versuchten, ihn zu vertreiben. Der Mann kam vom benachbarten Zeltplatz zu uns gerannt, wedelte mit seinem Hemd und schrie den Bären an. Als das Tier ihn sah, lief es davon.”
“Hat dieser Mann mit Ihnen oder einem der Mädchen gesprochen?”
“Eigentlich nicht. Er sagte nur, dass wir das Essen von jetzt an besser in Bündel schnüren und in die Bäume hängen sollten, aber wir erzählten ihm, dass wir gleich nach dem Frühstück aufbrechen würden. Er meinte, er sei froh, dass er uns helfen konnte.” Sie runzelte die Stirn.
“Was ist?”, fragte Autumn.
“Ich … ich erinnere mich daran, dass er auf Ginny zeigte und fragte, ob sie meine Tochter sei. Als ich Ja sagte, meinte er, das hätte er gleich gewusst, weil wir beide so hübsch seien.” Sie begann zu weinen, und ihr Mann legte ihr beschützend den Arm um die Schultern.
“Ich hoffe, Sie verstehen, dass … Meine Frau hat in den letzten zwei Monaten eine Menge durchgemacht. Wir beide.”
“Glauben Sie mir, ich verstehe das sehr gut”, beruhigte Ben ihn.
“Brauchen Sie sonst noch etwas?”, fragte Jack.
“Ich muss nur noch wissen, ob Sie mir noch mehr über diesen Mann sagen können oder ob Sie eine Ahnung haben, wo wir ihn finden?”
Laura sah auf und putzte sich die Nase mit einem Taschentuch, das ihr Mann ihr gereicht hatte. “Er war ein gewöhnlicher Camper. Irgendjemand, der die Natur genossen hat, genauso wie wir. Ich glaube, er war alleine dort. Ich
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