Engelslieder
verschwunden.
Ben hielt in der Nähe der Absperrung, ohne den Weg zu blockieren, und er und Autumn stiegen aus. Sie gingen auf den Deputy Sheriff zu, der vor der Eingangstür Wache hielt, ein junger Mann mit weizenblonden Haaren, tief liegenden Augen und jugendlichen Gesichtszügen.
“Gibt es schon Verdächtige?”, fragte Ben.
Der Polizeibeamte sah sie abschätzend an. “Kann ich irgendetwas für Sie tun?”
Ben zog die aufgerollte Zeichnung aus der Tasche. “Wir suchen nach dem Mann auf diesem Bild. Wir hoffen, dass ihn jemand aus der Gegend vielleicht kennt. Vermutlich lebt er in der Nähe.”
Der Deputy zog die fast weißen Augenbrauen zusammen. “Sieht ziemlich durchschnittlich aus, der Typ. Schwer zu sagen … anhand des Bildes … So sehen viele aus.”
“Haben Sie jemand Bestimmten im Sinn?”
“Blonde Haare, blaue Augen”, las er vor. “Durchschnittliche Größe und Figur. Wie gesagt, das trifft auf viele zu. Warum suchen Sie ihn denn?”
“Er ist vielleicht in einen Fall von Kindesentführung verwickelt. In zwei, um genau zu sein. Der eine liegt zwei Monate zurück, der andere sechs Jahre.”
Der Deputy musterte das Bild und gab es ihnen dann zurück. “Tut mir leid. Ich kann Ihnen nicht helfen.” Er sah auf. “Haben Sie Grund zur Annahme, dass er in der Gegend wohnt?”
“Wir wissen, dass er ein Naturbursche ist, oder zumindest sind wir uns sehr sicher. Gerüchten zufolge hält er die Mädchen vielleicht irgendwo hier oben in den Kaskaden fest.”
“Was für Gerüchte sind das?”
“Hinweise, denen wir gefolgt sind.” Das war zwar gelogen, aber es war einfacher, als die Wahrheit zu erklären.
“Und weshalb suchen
Sie
ihn? Sind Sie Privatdetektiv?”
“Eins der vermissten Mädchen ist meine Tochter.”
Die jungenhaften Gesichtszüge des Deputys wurden weicher. “Tut mir leid, ich würde Ihnen wirklich gern helfen.”
Als Ben den unbehaglichen Gesichtsausdruck des jungen Mannes wahrnahm, dachte er, dass ihnen vielleicht gerade Deputy Cobb, als den ihn das silberne Schild an seiner Brusttasche auswies, würde helfen können.
Er reichte dem Deputy seine Visitenkarte. “Wir werden im örtlichen Motel einchecken. Falls Ihnen irgendetwas einfällt, finden Sie uns dort.”
“Sie könnten Schwierigkeiten haben, dort ein Zimmer zu kriegen. Sind ‘ne Menge Medienfuzzis unterwegs.”
“Ja, das kann ich mir vorstellen.” Sie ergatterten das letzte der sechs Zimmerchen, warfen ihre Sachen auf das durchgelegene Doppelbett und machten den Fernseher an.
“Gott sei Dank gibt es hier Satellitenfernsehen”, kommentierte Ben, als er durch die verschiedenen Programme zappte, bis er einen Nachrichtensender fand.
“In dem bizarren Mord an einer jungen Frau im ländlichen Warren County”, sagte der Reporter gerade, “gibt es neue Entwicklungen. Offenbar wurde der Angriff nicht von einem Mann ausgeführt, wie die Polizei zunächst dachte, sondern von zwei Tätern.” Der Nachrichtensprecher verlas die jüngsten Neuigkeiten, von denen es nicht gerade viele gab, und wärmte danach Fakten auf, die Ben und Autumn bereits kannten. Ben schaltete das Gerät aus.
“Wenigstens wissen sie jetzt, dass es zwei waren”, sagte Autumn.
“Ja, aber auch nicht viel mehr.” Es war schon spät. Auch im Sommer brach die Dunkelheit schnell herein, sobald die Sonne hinter den hohen Bergen versunken war. Sie waren am späten Nachmittag losgefahren, um die kurvige Straße, die in den Canyon führte, noch im Hellen zu schaffen.
“Hunger?”, fragte Ben.
“Eigentlich nicht, aber ich glaube, ich könnte etwas essen.”
“Gut, das solltest du auch. Morgen fangen wir an herumzubohren. Mal sehen, was dabei herauskommt.”
“Lass uns die Zeichnung mitnehmen und sie den Leuten im Café zeigen.”
Sie gingen hinaus und legten den kurzen Weg entlang einer schmalen Straße, die zwar gepflastert war, jedoch keine Gehwege hatte, zu Fuß zurück. Das Grove Café war etwa halb voll. Zwei Familien, ein Biker-Pärchen mit Lederwesten, einige Medienleute, die wie die Geier auf die nächsten Neuigkeiten lauerten, und ein Junge und ein Mädchen mit Sonnenbrand im Gesicht, die Ben als Wanderer einstufte.
In der näheren Umgebung gab es wundervolle Wanderwege. Ben hatte den Fluss, der durch den Canyon führte, schon mit dem Kajak befahren. Auf dem Rückweg war er über den Bergpass gewandert.
“Ich bin hier oben vor ein paar Sommern mal geklettert”, erzählte Autumn, als sie sich an einem der rustikalen
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