Engelslieder
Fenster entdeckte. Als sie sie öffnete, fand sie sich nicht im Hauptbesuchszimmer wieder, sondern in einem kleinen Raum, der nur Platz für vier Häftlinge bot. Er sah genauso aus, wie sie es aus dem Fernsehen kannte: die Insassen auf der einen Seite der Glasscheibe und die Besucher auf der anderen.
Drei der vier Plätze waren belegt. Eine fettleibige Frau mit fettigem schwarzen Haar saß auf einem der Stühle und sprach mit einem riesigen dunkelhäutigen Mann mit Ohrringen in den Ohrläppchen. Ein schmächtiger weißer Typ unterhielt sich mit seiner Freundin, die aussah, als wäre sie auf Drogen, was nicht sein konnte, da man sie in dem Fall nicht hereingelassen hätte.
Der dritte Kerl sprach mit einem Mann, der einen billigen gestreiften Anzug trug und versuchte, irgendein Geschäft abzuwickeln, wenn Autumn sich auch nicht vorstellen konnte, was für eins. Der Schauplatz deprimierte sie, und zum ersten Mal dachte sie, hierherzukommen wäre die schlechteste Idee gewesen, die sie je gehabt hatte.
Dann ging die Tür auf der anderen Seite der Glasscheibe auf, und Gerald Meeks betrat das Zimmer. Er trug die khakifarbene Gefängniskluft und sah genauso aus wie auf den Fotos – dünn, beinahe hager, mit tief in den Höhlen liegenden Augen. Sein Haar war hellbraun, nicht blond wie bei dem Mann aus ihrem Traum.
Er setzte sich ihr gegenüber. Als er sie ansah, erschauderte Autumn.
“Nur die Ruhe, Lady. Sie sind viel zu alt, als dass ich mich für Sie interessieren würde.”
Sie straffte die Schultern. Sie war hergekommen, um mit dem Mann zu sprechen, und nicht, um sich von ihm einschüchtern zu lassen.
“Danke, dass Sie dem Besuch zugestimmt haben”, begann sie.
“Ich bekomme nicht viel Besuch. Ich dachte mir, es sei ein netter Zeitvertreib.”
“Ich bin hier, um Ihnen Fragen zu Molly McKenzie zu stellen.”
Er lächelte, ein schmaler Schlitz, der quer über das untere Drittel seines Gesichts lief. “Mich haben schon viele Leute zu ihr befragt. Warum denken Sie, ich hätte etwas Neues zu erzählen?”
“Ich weiß nicht … Ich habe gehofft … Seit Mollys Verschwinden sind inzwischen sechs Jahre vergangen. Sie sind schon fast genauso lange eingesperrt. Ich dachte, Sie wären in Bezug auf Molly mittlerweile vielleicht etwas gesprächiger.”
“Warum interessiert Sie das überhaupt?”
“Ich bin eine … Freundin der Familie. Ich versuche nur herauszufinden, ob Molly tatsächlich tot ist.”
Dunkle Augen bohrten sich in ihren Körper. “Sie glauben also nicht daran? Alle anderen sind überzeugt, ich hätte sie umgebracht.”
“Und, haben Sie es getan?”
Er machte eine unerträglich lange Pause. “Es war mutig von Ihnen herzukommen. Die Jungs hier drinnen würden Sie mit Haut und Haaren verschlingen, wenn sie könnten. Sie alle werden ziemlich eifersüchtig sein, wenn ich ihnen erzähle, welch attraktiven Besuch ich hatte.” Die tief liegenden Augen wanderten über ihren Körper. Sie bekam eine Gänsehaut. “Als kleines Mädchen waren Sie bestimmt ein hübsches kleines Ding, Autumn Sommers. Diese strahlend grünen Augen und das seidige rotgoldene Haar. Wenn ich Sie damals gesehen hätte …”
“Ich bin hier, um über Molly zu sprechen”, unterbrach Autumn ihn barsch, wobei sie die aufsteigende Übelkeit und ihr plötzlich wie wild schlagendes Herz ignorierte.
Gerald Meeks schaute ihr in die Augen. “Ich hätte es ihnen ja gesagt, aber sie hätten mir sowieso nicht zugehört, also habe ich geschwiegen.”
“Ihnen was gesagt?”
“Sie wollen die Wahrheit wissen? Ich habe Molly McKenzie nicht ein Mal angesehen. Ich habe sie nicht umgebracht. Ich war niemals in ihrer Nähe. Ich dachte nur … lass die doch weiterraten, ist mir doch egal. Der Gedanke daran, dass mich diese Bullen für den Täter hielten, hat mich irgendwie amüsiert.”
Einige Augenblicke lang saß Autumn einfach nur da. Natürlich konnte sie nicht sicher sein, ob Gerald Meeks ihr die Wahrheit sagte, aber Autumn zweifelte nicht daran. Sie glaubte ihm.
Nach allem, was sie gelesen hatte, hatte Meeks nach der Verhaftung mit seinen Morden geprahlt, doch die kleine Molly hatte er nie erwähnt.
“Danke für Ihre Offenheit, Mr. Meeks.”
“War mir … ein Vergnügen …” Meeks stand auf. Autumn ebenfalls. Auf dem Weg zur Tür spürte sie seinen Blick auf ihrem Körper.
Erleichterung machte sich breit, als sie die Tür hinter sich schloss und den Flur zurückging. Sie passierte nochmals die Sicherheitskontrolle, wo sie
Weitere Kostenlose Bücher