Engelslieder
Augen auf.
“Und wie geht es ihm jetzt?”, unterbrach Ben diplomatisch.
“Wie gesagt, ich glaube, so weit ganz gut. Der Arzt sagt, es gehe ihm schon viel besser, aber sie wollen noch ein paar Untersuchungen machen.”
Ben wandte sich an Autumn. “Geh doch mal hinein, und versuche, etwas Konkreteres in Erfahrung zu bringen. Myra und ich warten hier solange auf dich.”
“Gute Idee.” Das hätte ich schon längst tun sollen, dachte sie, als sie den Wartebereich der Notaufnahme betrat, aber ich konnte gar nicht klar denken – den ganzen Abend schon nicht!
Der Notarzt kam zu ihr an die Rezeption. Er sah jung aus, hatte dunkle Haare und trug eine Hornbrille. Sein Name war Leonard Jackson.
“Mr. Sommers geht es sehr gut”, teilte Dr. Jackson ihr mit. “Ich glaube, er hat eine akute Magenverstimmung. Das in Kombination mit einer leichten Überanstrengung sah wie ein Herzanfall aus. Zur Sicherheit behalten wir ihn ein, zwei Tage zur Beobachtung hier, aber ich glaube, es ist alles in Ordnung.”
Vor Erleichterung wäre sie beinahe in sich zusammengesackt.
“Sie können für ein paar Minuten zu ihm, aber bleiben Sie nicht zu lange.”
Autumn ignorierte den antiseptischen Krankenhausgeruch, den sie schon immer gehasst hatte, und betrat eine durch Vorhänge abgetrennte Kabine, die in einer Reihe zwischen sechs weiteren lag. Ihr Vater war wach und motzte.
“Ich habe ihr noch gesagt, dass es nichts ist. Nicht zu fassen, dass sie dich angerufen hat.” Er war nicht groß, hatte vom jahrelangen Klettern aber muskulöse Schultern und Beine und nicht die für sechzigjährige Männer übliche Wampe. Umso überraschter war er gewesen, als man bei ihm Bluthochdruck und einen überhöhten Cholesterinspiegel festgestellt hatte. Laut Ärzten war dies eine genetische Veranlagung. Bislang hatte sich Max geweigert, verschreibungspflichtige Medikamente einzunehmen, da er überzeugt war, dass die Medizin schlimmer sei als der hohe Cholesterinwert.
Autumn war nicht sicher, ob sie das wirklich anders sah. “Myra hat sich halt Sorgen um dich gemacht, Dad. Du liegst ihr sehr am Herzen.”
Er sah ihr offen ins Gesicht. “Ich sollte sie wohl heiraten. Sie zu einer ehrbaren Frau machen.”
Das überraschte sie. Hatte Max gerade wirklich das H-Wort gesagt? Autumn konnte es nicht glauben. Die Ehe mit ihrer Mutter war eine einzige Katastrophe gewesen. Max Sommers hatte geschworen, nie wieder zu heiraten, und er schickte ihr ständig E-Mails mit blöden Witzen über verheiratete Männer. Obwohl er schon seit Jahren mit Myra zusammen war, war es Autumn nie in den Sinn gekommen, dass er die Frau tatsächlich heiraten könnte.
Sie betrachtete ihn, wie er so dalag, blasser als sonst, das graumelierte Haar fiel ihm in die Stirn. “Du meinst das ernst, oder? Die Sache mit der Hochzeit, meine ich.”
Er zuckte leicht die Achseln. “Dann hätte sie zumindest zu mir gedurft. Ich meine: Mein Gott, wir leben fast zusammen.”
Es war sein Ernst. Sie konnte es nicht fassen und holte tief Luft, um sich zu sammeln. “Mir ist klar, dass du dein eigenes Leben führst, Dad. Wie auch immer du dich entscheidest, es ist in Ordnung für mich, aber du musst eines bedenken.”
“Und was?”
“Dein Herz, Dad. Findest du wirklich, dass du und Myra … na ja … euch so verhalten solltet, wie ihr es getan habt? Bei deinem Bluthochdruck und so?”
Er ächzte. “Wenn ich sterbe, sterbe ich. Bis dahin will ich leben. Täte dir übrigens auch mal ganz gut.”
Sie biss die Zähne aufeinander. Max drängte sie immer, ihr Leben zu genießen und keine Angst davor zu haben. Zwar verlangte er nicht von ihr zu heiraten. Aber er fand, sie sollte das Leben genauso leben, wie er es stets getan hatte. So, wie er es getan hatte, als ihre Mutter noch lebte.
Eines war klar: Max Sommers war ein Stromer.
Und er war niemals treu gewesen.
Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass die lockeren Affären ihres Vaters einen Grund dafür darstellten, dass sie die Männer auf Distanz hielt. Sie hatte Angst davor, sich in einen Mann zu verlieben und nicht Frau genug zu sein, ihn vom Herumstreunen abzuhalten. Und genau das war ihr mit Steven widerfahren.
Wenn sie einen Berg bestieg, hatte sie keine Angst, weil sie die Kontrolle hatte. Aber sobald es um Männer ging …
Sie musste daran denken, wie sie am Abend die Kontrolle bei Ben verloren hatte, und ihr Gesicht wurde ganz heiß. Wie konnte sie ihren Vater kritisieren, wenn sie und Ben genau
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