Engelslust
mitten im Atlantischen Ozean.
Er musste sich beeilen!
***
Cain schwebte, umgeben von einer weißen Rauchwolke, über der kleinsten bewohnten Azoreninsel Corvo und warf einen Blick auf sein Handy, um zu überprüfen, wo genau er landen sollte. Unter ihm, an der südlichen Spitze, lag die einzige Stadt. Die wenigen hellen Häuser bildeten einen hübschen Kontrast zur grasgrünen Insel, die aus einem riesengroßen, längst erloschenen Vulkan bestand. Außer im Süden, wo ein kleiner Flughafen lag, gab es keine Sandstrände, sondern nur steile Klippen. Cain überflog den breiten Krater, dessen Hänge ebenfalls begrünt waren und in dessen Caldera sich einzelne Seen gebildet hatten, bis er die nördlichste Spitze erreichte. Dort landete er und sah sich um. Er stand auf einer steilen Klippe, unter sich ein schmales, felsiges Ufer. Von Raja keine Spur, aber Cain spürte die Macht des Kelches. Er musste sich noch hier befinden, ganz in der Nähe!
»Verdammt, Mädchen, wo bist du?« Schnell tippte er auf seinem Handy herum, um Rajas Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Seitdem er auf dem Empire State Building heimlich ihre Energiesignatur gescannt hatte, ließ er sie durchgehend orten. So wusste er immer, wo sie sich aufhielt, denn er traute ihr nach wie vor nicht. Aber er fand kein Signal von ihr. Entweder befand sie sich in der Unterwelt, in Gwandoria oder ... Cain tippte weiter und verschaffte sich Zugriff auf die Datenbank des Satelliten, um ihren letzten Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Dabei knurrte er unentwegt vor sich hin, da er im Moment wahrlich dringendere Angelegenheiten zu erledigen hatte, als sich um eine verschollene Dämonin zu kümmern. Schuld war allein diese schreckliche Vision! Und das Versprechen, auf sie aufzupassen …
Da! Endlich hatte Cain auf seinem Smartphone etwas gefunden. Hier – es zeigte ihm eine Karte von England – war Raja noch mit ihm in der Burgruine gewesen. Cain spulte die Zeit weiter vor, da blinkte ihr Signal hundert Kilometer nördlich der Azoren ein paar Mal auf und war dann plötzlich verschwunden. Es verlor sich mitten im Nordatlantischen Ozean.
Sein Herz raste. »Verdammt!« Wieso war sie so weit weg von der Insel? Sie verfehlte doch sonst nie ihr Ziel, hatte ihn ja sogar in der Zentrale aufgespürt!
Seine Vision schoss ihm abermals in den Kopf, worauf er wusste: Raja ertrank in diesem Augenblick!
Abrupt überfiel ihn eine heftige Übelkeit, als er daran dachte, wenn sie nicht mehr da wäre, um ihn zu ärgern, ihn mit ihren Reizen zu locken, sie zu riechen, schmecken, fühlen … Verdammt, er musste sich zusammenreißen, die Zeit lief ihm davon!
Eine warme Brise wehte ihm das Haar aus der schweißnassen Stirn und er bemerkte eine Bewegung zu seiner Linken. Da sah er sie, zwei winzige Figuren, eine schwarz, die andere weiß, weit unten am kleinen, felsigen Strandabschnitt: Thorne und Amabila, wie sie gerade dabei waren, zu verschwinden! Der Rauch hatte sie verraten, als der Kelch die nächste Zutat absorbiert hatte.
Jetzt musste Cain sich entscheiden: der Kelch oder Raja!
Seine Mission ließ ihm eigentlich keine Wahl. Sofort löste er sich wieder auf und flog zum Ufer hinunter. Nur wenige Meter vor Thorne und Amabila, die eng umschlungen auf dem felsigen Untergrund standen, materialisierte er sich und erkannte gerade noch ihre erstaunten Blicke – Thorne schien überrascht zu sein, dass Cain noch lebte, und Amabila wirkte erleichtert –, als sich die beiden ihrerseits aufzulösen begannen.
Cain hätte jetzt die Möglichkeit, Amabila zu verfolgen. Das wäre seine Chance!
Im letzten Augenblick entschied er sich jedoch, den Ort anzufliegen, wo sich Rajas Signal verloren hatte.
Ihm blieben noch zwei Tage, den Kelch zu finden, Raja blieben vielleicht nicht einmal mehr zwei Minuten! Auf dem Weg zu ihr befand er sich in einem regelrechten Gewissenskonflikt. Er verstieß soeben gegen die obersten Gesetze seiner Einheit und das nur, um seiner Erzfeindin und Konkurrentin bei der Kelchjagd das Leben zu retten! Er musste ja total bescheuert sein!
Aber Cain bekam einfach die Bilder nicht aus dem Kopf, wie ihm Raja hilfesuchend und mit verzweifeltem und doch so hoffnungsvollen Blick die Hand hingestreckt hatte. Sie vertraute ihm …
Verdammt, immerhin hatte er ihr sein Leben zu verdanken. Sie hatte ihn damals – natürlich nicht ganz uneigennützig – auch geholfen! Und wie würde Fermion reagieren, wenn Cain ihm mitteilen musste, dass seine Tochter ertrunken war, weil
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