Engelsmorgen
von »Gefahren«, die Luce drohten, ohne dass er ihr genauer erläutert hätte, was er eigentlich damit meinte. Das Outcast-Mädchen, das ihr am Noyo Point aufgelauert hatte. Der blutbefleckte Cam. Dawn, die ihr auf dem verschwommenen Schwarzweißfoto so unglaublich ähnlich sah.
Wer auch immer hinter Dawn her gewesen sein mochte, er hatte sich getäuscht. Es war Luce, nicht Dawn, auf die er es abgesehen hatte.
Zwölf
Sieben Tage
Freitagmorgen. Luce schlug die Augen auf und sah sofort auf die Uhr. Halb sieben. Sie hatte kaum geschlafen – in ihr war alles ein einziges Chaos, sie hatte riesengroße Angst um Dawn und war gleichzeitig immer noch ganz aufgewühlt von der Szene aus ihrem früheren Leben, die sie mithilfe des Verkünders gesehen hatte. Es war so unheimlich gewesen, die letzten Augenblicke vor ihrem Tod mitzuerleben. Ob es jedes Mal so gewesen war? Ihre Gedanken stießen sich immer wieder an demselben Dreh- und Angelpunkt:
Wenn Daniel nicht wäre …
Würde sie dann nicht ein normales Leben führen können, sich in einen anderen Jungen verlieben, heiraten, Kinder haben und alt werden – wie der Rest der Welt? Wenn Daniel nicht wäre, wenn er sich nicht vor einer Ewigkeit in sie verliebt hätte, würde Dawn dann jetzt auch vermisst werden?
Diese Fragen führten aber alle nur wieder zu der Hauptfrage zurück, die lautete: Wäre die Liebe mit einem anderen Jungen anders? Wäre es für sie überhaupt möglich, einen anderen Jungen zu lieben? Liebe sollte doch ganz einfach sein, oder? Warum war es für sie dann eine solche Qual?
Shelbys Kopf tauchte über ihr auf. Sie schaute, über die Bettkante gebeugt, zu Luce. Ihr dicker blonder Pferdeschwanz baumelte wie ein schweres Seil herunter. »Macht dich das alles auch so fertig wie mich?«
Luce klopfte neben sich aufs Bett, dass Shelby runterkommen und sich neben sie setzen sollte. Kurz darauf schlüpfte Shelby neben Luce, immer noch in ihrem dicken roten Flanellschlafanzug. Sie hatte zwei riesige Schokoriegel dabei.
Luce wollte schon sagen, dass sie jetzt unmöglich essen konnte, aber als ihr der Schokoladengeruch in die Nase stieg, wickelte sie ihren Riegel auch aus und lächelte dankbar.
»Genau das Richtige jetzt«, sagte Shelby. »Erinnerst du dich noch daran, was ich gestern Nacht gesagt habe? Von wegen Dawn würde sich wahrscheinlich irgendwo mit einem Schleimscheißer rumtreiben? Ich hab jetzt deswegen ein richtig schlechtes Gewissen.«
Luce schüttelte den Kopf. »Ach was, Shelby, das konntest du doch nicht ahnen. Du brauchst deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben.« Luce selbst dagegen hatte allen Grund, sich dafür verantwortlich zu fühlen, was Dawn passiert war. Sie hatte sich in ihrem Leben schon so oft schuldig am Tod von Menschen gefühlt, die ihr nahestanden – erst Trevor, dann Todd, dann die arme, arme Penn. Beim Gedanken, dass sie jetzt wahrscheinlich auch Dawn dieser Liste hinzufügen musste, schnürte sich ihr die Kehle zu. Sie wischte sich verstohlen eine Träne weg, bevor Shelby etwas bemerken konnte. Allmählich hatte sie das Gefühl, dass sie am besten für den Rest ihres Lebens auf eine einsame Insel zog, weit weg von allen, die ihr etwas bedeuteten, damit sie nicht in Gefahr gerieten.
Ein Klopfen an der Tür ließ Luce und Shelby aufspringen. Die Tür ging langsam auf. Miles.
»Sie haben Dawn gefunden.«
»Was?«, riefen Luce und Shelby wie aus einem Mund und fuhren hoch.
Miles zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich. Er nahm seine Kappe ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es wirkte, als sei er übers gesamte Schulgelände gerannt, um Luce und Shelby die Neuigkeit zu erzählen.
»Ich konnte nicht schlafen«, sagte er und drehte die Kappe in seinen Händen. »Deshalb war ich früh auf. Ich bin raus und ein bisschen rumgelaufen. Da hab ich Steven getroffen und er hat es mir erzählt. Die Leute, die sie entführt hatten, haben sie bei Sonnenaufgang zurückgebracht. Sie ist total durcheinander, aber unverletzt.«
»Ein Wunder ist geschehen«, murmelte Shelby.
Luce war misstrauischer. »Kapier ich nicht. Sie haben sie einfach zurückgebracht? Und ihr überhaupt nichts getan? Wo kommt so was denn vor?«
Wie lang sie wohl gebraucht hatten, wer auch immer es war, bis sie gemerkt hatten, dass Dawn das falsche Mädchen war?
»Na ja, so einfach war es nicht«, gab Miles zu. »Steven hatte was damit zu tun. Er hat sie gerettet.«
»Vor wem?« Luce schrie das fast.
Miles zuckte mit den Schultern, kippte mit
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