Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engelsmorgen

Engelsmorgen

Titel: Engelsmorgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Kate
Vom Netzwerk:
Luce hierher nach Shoreline gebracht hatte.
    Daniel hatte ihr immer wieder versichert, dass es für sie ein sicherer Ort wäre. Inzwischen fragte sich Luce, ob das in Wirklichkeit nur bedeutete, dass dadurch alle anderen hier in Gefahr gerieten.
    Miles entfuhr ein leiser Schrei und Luce schlug die Augen auf. Sie blickte zum Fenster. Ein großer kohlschwarzer Schatten musste inzwischen hereingeglitten sein, denn er presste sich unmittelbar dahinter an die Decke. Zuerst wirkte er fast so, als könnte es sich dabei um einen ganz normalen Schatten handeln, wie ihn die Stehlampe warf, die Shelby immer auf die Zimmerecke richtete, wenn sie ihr Vinyasa-Yoga machte. Aber dann begann der Verkünder, sich über die ganze Decke auszubreiten, bis das Zimmer aussah, als hätte man es in Trauerfarbe gestrichen. Gleichzeitig verströmte er einen fauligen Geruch. Er befand sich zu weit oben, um ihn erwischen zu können.
    Der Verkünder, den sie gar nicht herbeigerufen hatte – der Verkünder, dessen Botschaft alles Mögliche beinhalten konnte –, schien sich über Luce lustig zu machen.
    Sie atmete nervös ein, dachte dann daran, was Miles gesagt hatte. Dass man den Schatten deutlich zeigen musste, wer Herr im Haus war. Sie konzentrierte sich so stark, dass sie davon Kopfweh bekam. Ihr Gesicht wurde rot, und sie strengte ihre Augen so stark an, dass sie beinahe abbrechen musste. Dann aber geschah es:
    Der Verkünder verformte sich und glitt Luce wie eine dicke Stoffschlaufe, die heruntergelassen wird, vor die Füße. Sie kniff die Augen zusammen, schaute genau hin und entdeckte einen kleineren, plumperen bräunlichen Schatten, der oben auf dem größeren, dunkleren hockte und alle seine Bewegungen nachahmte, so wie ein Spatz manchmal nahe bei einem Habicht fliegt. Was hatte dieser zweite Schatten vor?
    »Unglaublich«, flüsterte Miles. Luce nahm das als Kompliment. Diese verdammten Schatten, die sie ihr ganzes Leben verfolgt und gequält hatten, die sie immer gefürchtet hatte – sie dienten ihr jetzt. Das war wirklich unglaublich. Erst als sie den bewundernden Ausdruck auf Miles’ Gesicht sah, kam ihr das so richtig zu Bewusstsein. Und das erste Mal in ihrem Leben fühlte sie sich ziemlich große Klasse.
    Luce atmete gleichmäßig und lenkte den Schatten langsam vom Boden weg in ihre Hände. Sobald der größere schwarze Verkünder in ihrer Reichweite war, ließ sich der kleinere auf den Boden fallen und huschte, einem Lichtstrahl gleich, über die braunen Dielenbretter davon.
    Luce packte den Verkünder, der vor ihr schwebte, an beiden Enden und hielt einen Augenblick den Atem an. Sie hoffte inständig, dass seine Botschaft harmloser war als die des Schattens vom Vortag. Dann zog sie. Überrascht stellte sie fest, dass dieser Verkünder mehr Widerstand leistete als alle anderen. Obwohl er so zart und hauchdünn wirkte, war er in ihren Händen merkwürdig steif. Als sie ihn endlich zu einem kleinen Schirm auseinandergezerrt hatte, taten ihr von der ungewohnten Anstrengung die Arme weh.
    »Weiter krieg ich ihn nicht auseinander«, sagte sie zu Miles und Shelby, die aufstanden und neugierig näher kamen.
    Der dünne schwarze Schleier über dem Bildschirm des Verkünders lüftete sich, jedenfalls hatte Luce den Eindruck, aber darunter kam nur ein weiterer Schleier zum Vorschein, diesmal eher grau als schwarz. Sie starrte darauf, bis sie merkte, dass dieser graue Stoff Strudel bildete und sich bewegte. Was sie da sah, war gar nicht mehr der Schatten. Bei dem grauen Schleier handelte es sich um eine dicke Wolke von Zigarettenrauch. Shelby hustete.
    Der Rauch verzog sich nicht, aber Luces Augen gewöhnten sich daran. Bald konnte sie einen breiten, halbrunden Tisch erkennen, der mit rotem Filz bedeckt war und auf dem in ordentlichen Reihen Spielkarten ausgebreitet lagen. Mehrere vollkommen Fremde saßen auf einer Seite des Tisches. Einige wirkten unruhig und nervös, wie der glatzköpfige Mann, der immer wieder seine gepunktete Krawatte lockerte und leise vor sich hinpfiff. Andere sahen erschöpft aus, wie die sorgfältig frisierte Frau, die gerade ihre Zigarettenasche in ein halb volles Glas schnippte. Ihr dick aufgetragener Mascara war rund um die Augen verschmiert.
    Auf der anderen Tischseite mischten zwei Hände blitzschnell die Karten und teilten sie mit lockerer Geste reihum an alle Mitspieler aus. Luce rückte näher an Miles, um einen noch besseren Blick zu haben. Die flackernden Lichter der unzähligen Spielautomaten, die

Weitere Kostenlose Bücher