Engelsmorgen
bedeutete.
»Ach, ich weiß nicht«, murmelte sie.
»Du meinst, so was wie gestern?«, fragte Miles mit weit aufgerissenen Augen.
Shelby fuhr herum und blickte ihn an. »Bist du immer noch da?«
Miles griff nach einem Kissen, das auf den Boden gefallen war, und schmiss damit nach ihr. Sie fing es und schleuderte es zurück, offensichtlich sehr zufrieden mit ihren Reflexen.
»Okay, Miles kann bleiben. Maskottchen kann man immer brauchen. Und vielleicht benötigen wir jemanden, der für uns irgendwelche Handlangerdienste macht. Hab ich nicht recht, Luce?«
Luce schloss die Augen. Es stimmte, dass sie unbedingt noch mehr über ihre Vergangenheit erfahren wollte. Aber was, wenn das wieder so schwer zu verkraften war wie am Tag zuvor? Selbst wenn sie jetzt Miles und Shelby an der Seite hätte – es machte ihr große Angst, noch einmal einen solchen Versuch zu wagen.
Aber dann erinnerte sie sich an den Tag, als Francesca und Steven vor der Klasse den Verkünder herbeigerufen hatten, der ihnen den Untergang von Sodom und Gomorrha zeigte – und wie benommen die übrigen Schüler danach gewesen waren. Luce jedoch hatte sich gedacht, dass es vollkommen einerlei sei, ob sie die grauenvolle Szene nun sah oder nicht. Die Geschichte hatte sich so oder so ereignet. Daran war nichts zu ändern. Und mit ihrer eigenen Vergangenheit, auch wenn sie sich das vielleicht nicht gern eingestehen wollte, war es genauso.
Sie durfte jetzt nicht aufgeben. Sie musste herausbekommen, was in ihren früheren Leben mit ihr geschehen war und warum. »Gut, dann lasst es uns noch mal versuchen«, sagte sie zu ihren Freunden.
Miles gab den Mädchen ein paar Minuten, um sich anzuziehen. Doch als sie sich dann wieder trafen, weigerte sich Shelby auf einmal, in den Wald mit den Mammutbäumen zu gehen, wo Luce bisher immer die Verkünder herbeigerufen hatte.
»Schau mich nicht so an. Dawn ist gestern dort draußen verschwunden und der Wald ist dunkel und unheimlich. Ich will einfach nur nicht die Nächste sein, okay?«
Da kam Miles auf den Gedanken, dass Luce doch einfach mal versuchen könnte, die Verkünder an einen Ort zu beordern, wie zum Beispiel in ihr Wohnheimzimmer.
»Pfeif doch einfach mal nach ihnen, die sollen ihre Hintern ruhig bewegen«, sagte er. »Lass die Verkünder ein bisschen für dich springen. Würd dir doch Spaß machen, oder?«
»Spinnst du?«, rief Shelby. »Ich hab echt keine Lust, dass sie hier bei uns herumlungern.« Sie wandte sich zu Luce. »Ich brauch einfach meine Privatsphäre, verstehst du?«
Natürlich verstand Luce, was sie meinte. Die Sache war nur, dass die Schatten eigentlich nie aufhörten, sie zu verfolgen, egal ob sie sie nun herbeirief oder nicht. Doch Luce hatte genauso wenig wie Shelby ein Interesse daran, dass sie unangekündigt in ihr Zimmer hereinplatzten.
»Mit den Verkündern verhält es sich so, dass man ihnen deutlich zeigen muss, wer der Herr im Haus ist. Das ist wie bei jungen Hunden. Man muss sie einfach erziehen.«
Luce blickte Miles von der Seite an. »Seit wann weißt du denn so viel über den richtigen Umgang mit den Verkündern?«
Miles wurde rot. »Mag sein, dass ich mich im Unterricht nicht besonders ›einbringe‹, aber ein paar Dinge weiß ich trotzdem.«
»Und wie funktioniert das dann? Ruft Luce einfach ›Komm her‹ und schon segelt ein Verkünder herbei?«, fragte Shelby.
Luce stand auf Shelbys regenbogenfarbener Yogamatte in der Mitte des Zimmers und erinnerte sich daran, was Steven ihr beigebracht hatte. »Lasst uns das Fenster öffnen«, sagte sie.
Shelby machte ein paar Schritte zum Fenster und schob das Fenster hoch. Eiskalte Seeluft wehte herein. »Super Idee. Wird dadurch echt einladend.«
»Und sehr frisch«, sagte Miles, der sich die Kapuze seines Sweatshirts überzog.
Dann setzten sie sich aufs Bett und schauten erwartungsvoll Luce an, als wäre sie eine Zauberkünstlerin, die gleich eine Vorstellung geben würde.
Luce schloss die Augen und versuchte, in Gedanken das Wohnheimzimmer zu verlassen. Statt sich jedoch auf die Schatten zu konzentrieren und sie innerlich herbeizurufen, musste sie die ganze Zeit an Dawn denken. Was für einen Horror sie in der vergangenen Nacht erlebt hatte. Wie es ihr jetzt wohl ging, zu Hause bei ihren Eltern. Nach dem schrecklichen Zwischenfall auf der Jacht hatte sie sich unglaublich schnell wieder erholt, aber das hier war etwas anderes. Es war viel schlimmer. Und Luce war daran schuld. Na ja, genau genommen auch Daniel, der
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