Engelsmorgen
machte dann einen Satz in den Verkünder hinein.
Sonnenlicht umflutete sie, so grell, dass sie die Augen schließen musste, und es herrschte eine so tropische Hitze, dass ihre Haut sofort mit einem dünnen Schweißfilm überzogen war. Ihr war zumute wie bei einem gewaltigen Kopfsprung, wenn die Schwerkraft einen Moment ausgesetzt zu sein scheint. Gleich würde sie nach unten fallen …
Aber es hielt sie etwas am linken Knöchel fest. Und auch am rechten. Und dieses Etwas zog Luce mit aller Macht zurück.
»Nein!«, schrie sie. Tief unter sich konnte sie in diesem Augenblick sehen, wie im Wasser ein gelber Farbfleck explodierte. Zu grell, um nur das Oberteil eines Bikinis sein zu können. Wurde dort die frühere Luce bereits von den Flammen aufgezehrt?
Dann verschwand alles.
Luce wurde grob in die Wirklichkeit des düsteren, kalten Walds hinter ihrem Wohnheim in Shoreline zurückgezerrt. Ihre Haut fühlte sich feucht und kühl an, sie verlor das Gleichgewicht und stürzte mit dem Gesicht voran in die Nadeln der Mammutbäume auf dem Waldboden. Sie wälzte sich herum und sah zwei Gestalten vor sich stehen. Aber in ihr drehte sich immer noch alles, deshalb konnte sie nicht genau erkennen, wer es war.
»Hab ich mir doch gedacht, dass ich dich hier finden würde.«
Shelby. Luce schüttelte den Kopf und blinzelte ein paar Mal. Nicht nur Shelby, sondern auch Miles. Beide sahen müde aus. Luce war auch müde. Sie sah auf die Uhr und war inzwischen nicht mehr überrascht, als sie bemerkte, wie viel Zeit sie mit dem Verkünder verbracht hatte. Mit der Momentaufnahme eines früheren Lebens von ihr. Weit nach Mitternacht. Warum waren Miles und Shelby immer noch wach und trieben sich hier herum?
»W-was … was hast du da gerade tun wollen …«, stotterte Miles und deutete auf die Stelle, an der soeben noch der Verkünder geschwebt hatte. Luce blickte über die Schulter zurück. Er war in Hunderte von dunklen Nadeln zersplittert, die jetzt auf den Waldboden herabregneten und so trocken waren, dass sie dort zu Staub zerfielen.
»Mir ist schlecht«, murmelte Luce, rollte zur Seite und versuchte, hinter dem nächsten Stamm alles auszukotzen, aber sie würgte nur ein paar Mal, ohne dass etwas hochkam. Luce schloss die Augen. Sie wurde von Gewissensbissen gequält. Sie war zu schwach gewesen, um sich selbst in einem früheren Leben zu retten. Sie war zu spät gekommen.
Eine Hand legte sich ihr von hinten um den Kopf und strich ihr die kurzen blonden Haare aus dem Gesicht. Luce sah die ausgefransten Hosenbeine von Shelbys schwarzer Yogahose, ihre Füße mit den Flipflops und war ihrer Zimmergenossin plötzlich unendlich dankbar.
»Danke«, sagte sie. Es dauerte eine Weile, dann hob sie den Kopf, wischte sich über den Mund und stand unsicher auf. »Seid ihr sauer auf mich?«
»Warum? Ich bin stolz auf dich. Du hast herausgefunden, wie es geht. Da brauchst du jemanden wie mich jetzt doch gar nicht mehr.« Shelby klopfte Luce auf die Schulter.
»Shelby …«
»Doch, warte mal, mir fällt ein, warum du mich doch noch brauchst«, rief Shelby. »Nämlich um dich vor Katastrophen wie gerade eben zu bewahren! Da wärst du fast in was hineingestürzt, kann ich nur sagen. Mannomann, was hast du da vorgehabt? Weißt du, was mit denen passiert, die sich in die Verkünder hineinwagen?«
Luce schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht, aber ich glaub nicht, dass es besonders lustig ist!«
»Jedenfalls muss man immer wissen, was man tut«, sagte plötzlich Miles hinter ihnen. Er war blasser als sonst. Luce musste ihm einen ganz schönen Schrecken versetzt haben.
»Aha, und du weißt wohl immer, was du tust?«, spottete Shelby.
»Nein«, murmelte er. »Aber meine Eltern haben mich einmal im Sommer zu einem Workshop mitgenommen. Bei einem alten Engel, der wusste, wie das geht. Alles klar?« Er wandte sich zu Luce. »Und wie du das machen wolltest, Luce, das hätte nie funktioniert. Du hast mir echt einen Riesenschrecken eingejagt!«
»Tut mir leid«, murmelte Luce etwas verwirrt. Shelby und Miles verhielten sich, als hätte sie einen Verrat begangen, indem sie allein hierher in den Wald gekommen war. »Ich dachte, ihr wolltet alle zum Lagerfeuer bei der Nephilim-Lodge?«
»Wir dachten, du auch«, erwiderte Shelby. »Wir saßen da eine Zeit lang herum, bis Jasmine plötzlich aufschrie, dass Dawn verschwunden sei, und die Lehrer wurden ganz panisch, erst recht als ihnen in dem Moment auffiel, dass du auch fehlst, und darum wurde das
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