Engelsmorgen
fing Vera mit flinken Händen an, die Karten zu mischen.
Die meisten anderen Tische im Casino waren gut besetzt, aber an Veras Tisch waren die Rothaarige und ihr Anhängsel von Ehemann die einzigen Gäste. Trotzdem veranstaltete sie für die beiden die volle Show, ließ die Karten mit einer Geschicklichkeit zwischen ihren Händen hin und her wandern, die alle Tricks ganz leicht aussehen ließ. Luce bemerkte an Vera eine Anmut und Eleganz, die ihr vorher nicht aufgefallen war. Und einen Sinn für dramatische Effekte.
»Also«, meinte Miles, der neben Luce ungeduldig von einem Bein aufs andere trat. »Wollen wir jetzt … oder …«
Da legten sich auf einmal Shelbys Hände auf Luces Schultern und drückten sie auf einen der leeren Lederhocker rund um den Tisch.
Obwohl Luce Vera am liebsten die ganze Zeit angestarrt hätte, wich sie zuerst einem Blickkontakt aus. Sie hatte Angst, dass Vera sie sofort erkannte. Aber Veras Blicke glitten ohne das geringste Aufmerken über sie hinweg. Da fiel Luce wieder ein, dass sie ja mit den blond gefärbten Haaren ganz anders aussah. Nervös steckte sie sich eine Strähne hinters Ohr, unsicher, wie sie sich jetzt verhalten sollte.
Miles hielt ihr einen 20-Dollar-Schein unter die Nase. Da erst erinnerte Luce sich wieder, dass sie an einem Spieltisch saß und dass man dort natürlich spielte. Sie nahm den Schein und schob ihn über den Tisch.
Vera zog eine nachgezogene Augenbraue hoch. »Ausweis?«
Luce schüttelte den Kopf. »Können wir vielleicht nur etwas zuschauen?«
Auf der anderen Seite des Tisches schien die rothaarige Frau endgültig einzudösen. Ihr Kopf sackte auf Shelbys Schulter. Vera nahm die Szene achselzuckend wahr und schob Luce den Geldschein zurück. Sie deutete auf die Leuchtreklame für den Cirque du Soleil. »Zum Zirkus geht’s da lang, Kinder!«
Luce seufzte. Sie würden warten müssen, bis Vera ihre Schicht beendet hatte. Und dann hätte sie wahrscheinlich noch weniger Lust, sich mit ihnen zu unterhalten. Mit einem Gefühl der Niederlage streckte sie die Hand aus, um Miles’ Geldschein wieder zu nehmen. Veras Finger zogen sich gerade zurück, als die von Luce danach griffen – und ihre Fingerspitzen berührten sich einen Augenblick. Beide fuhren wie elektrisiert hoch. Es war wie ein Schock. Luce hielt den Atem an. Dann schaute sie Vera tief in die haselnussbraunen Augen.
Und sie sah auf einmal alles vor sich:
Das einstöckige Holzhaus in einer tief verschneiten Stadt im Norden. Eisblumen an den Fenstern. Der Wind rüttelte an den Fensterläden. Ein zehnjähriges Mädchen, das im Wohnzimmer fernsah und dazu ein Baby auf dem Schoß wiegte. Es war Vera, hübsch und blass, in ausgebleichten Jeans, einem dicken dunkelblauen Rollkragenpullover und Doc Martens, über das Sofa war eine billige Decke gebreitet. Auf dem Couchtisch stand eine Schüssel, die voller Popcorn gewesen sein musste, von dem nur noch ein paar harte, nicht aufgeplatzte Kerne übrig waren. Eine dicke Katze mit gelbbraunem Fell strich am Kamin mit dem Heizgerät entlang. Fauchte. Und Luce … Luce war die kleine Schwester, das Baby, das Vera auf dem Schoß hielt.
Luce wurde bewusst, dass sie auf ihrem Hocker hin und her rutschte. Sie stöhnte leise auf, als ihr all die Erinnerungen kamen. Im nächsten Moment verblasste das Bild bereits und wurde durch ein anderes ersetzt.
Luce als Kleinkind, das Vera jagte, Treppe rauf, Treppe runter, die breiten, ausgetretenen Stufen unter den trampelnden Füßen, außer Atem vor Lachen. Dann ein Klingeln an der Haustür, und ein hübscher Junge mit dunklen, glatten Haaren kam, um Vera ins Kino abzuholen, und sie hielt inne, fuhr sich durch die Haare und wandte sich dann ab, ging fort …
Einen Herzschlag später, und Luce war selbst ein Teenager, mit einer schulterlangen schwarzen Lockenmähne. Sie lag auf Veras Bett mit der seltsam tröstlichen Überdecke aus rauem Jeansstoff und blätterte heimlich in Veras Tagebuch. Er liebt mich, hatte Vera geschrieben, immer wieder und wieder, immer größer und kringeliger. Und dann wurden die Seiten kleiner, das zornige Gesicht ihrer Schwester schob sich ins Bild, die Tränenspuren sprachen eine deutliche Sprache …
Und dann wieder eine andere Szene, Luce war diesmal noch älter, vielleicht siebzehn. Sie wappnete sich gegen das, was nun mit Sicherheit kommen würde.
Es hatte geschneit, unablässig waren den ganzen Tag die weißen Flocken vom Himmel gefallen. Jetzt war es Nacht. Vera und ein paar ihrer
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