Engelsmorgen
Zimmer zurück. War es nicht eine klare, einfache Sache, dass man sich für das Gute zu entscheiden hatte? Würde das nicht jeder tun?
Vierzehn
Fünf Tage
Jemand hatte sie verpfiffen.
Es war Sonntagvormittag und auf dem gesamten Schulgelände herrschte Ruhe. Nur Shelby, Miles und Luce saßen in Francescas Büro und warteten. Gleich würde Francesca kommen und sie ausfragen. Ihr Büro war größer als das von Steven und auch heller, mit einer hohen schrägen Decke und drei großen Fenstern, die nach Norden zum Wald zeigten, jedes von lavendelfarbenen Samtvorhängen umrahmt. Dahinter war ein strahlend blauer Himmel zu sehen. Die große, gerahmte Fotografie einer Galaxie an der Wand hinter dem schweren Schreibtisch mit Marmorplatte war das einzige Kunstwerk im Raum. Die dunklen Stühle mit den Schnitzereien, auf denen sie saßen, waren reichlich unbequem. Luce zappelte unruhig.
»Anonymer Hinweis, meine Fresse«, murmelte Shelby. So hatte es in der barschen E-Mail geheißen, die sie früh am Morgen erhalten hatten. »Das riecht mir stark nach Lilith.«
Luce glaubte nicht, dass Lilith – oder irgendjemand sonst von den Schülern in Shoreline – etwas von ihrem unerlaubten Ausflug nach Las Vegas mitbekommen hatte. Die Informationen mussten den Lehrern von einer anderen Seite gesteckt worden sein.
»Was brauchen sie denn so lange?« Miles deutete mit dem Kinn zu Stevens Büro gleich nebenan, wo sie ihre Lehrer debattieren hörten. »Kommt mir so vor, als würden sie schon die Strafe festlegen, bevor sie uns überhaupt angehört haben. Sie wissen doch noch gar nicht, was wir ihnen zu erzählen haben.« Er kaute auf der Unterlippe. »Was haben wir ihnen denn überhaupt zu erzählen?«
Aber Luce hörte ihm gar nicht zu. »Ich verstehe wirklich nicht, was daran so schwierig sein soll«, murmelte sie, mehr zu sich als zu den anderen. »Man stellt sich auf eine Seite und geht weiter seinen Weg.«
»Hä?«, kam es von Miles und Shelby gleichzeitig.
»Entschuldigung«, sagte Luce. »Es ist nur … erinnert ihr euch daran, was Arriane gesagt hat, das mit den beiden Waagschalen? Als ich es Daniel gegenüber erwähnt habe, wurde er ganz seltsam. Also im Ernst, wie kann man denn groß daran zweifeln, was da richtig ist?«
»Ich find, das ist doch ganz klar«, sagte Miles. »Es gibt Gut und Böse und dazwischen muss man sich entscheiden.«
»Wie kannst du das einfach so behaupten?«, erwiderte Shelby. »Genau dieses Denken hat uns ja die Situation beschert, in der wir uns heute befinden. Totale Denkfaulheit! Das blinde Nachbeten eines schon lange nicht mehr gültigen Entweder-Oder-Schemas!« Ihr Gesicht war rot geworden und sie hatte sich richtig in Rage geredet. Bestimmt konnten Francesca und Steven jedes Wort hören. »Ich hab so genug davon, dauernd dieses Gerede von Engeln und Dämonen und dass man sich für eine Seite entscheiden muss – bla, bla, bla. Die einen sind böse! Nein, die anderen sind böse! Und so geht es immer weiter … Als wüssten sie, was für alle im Universum das Beste ist.«
»Willst du damit sagen, dass Daniel sich auf die Seite des Bösen stellen soll?«, meinte Miles spöttisch. »Damit die Welt bald untergeht?«
»Das ist mir völlig scheißegal, was Daniel tut«, sagte Shelby. »Und ehrlich gesagt, glaub ich auch nicht so ganz, dass das alles von ihm abhängen soll.«
Aber so musste es sein. Luce konnte sich keine andere Erklärung denken.
»Vielleicht ist das ja gar nicht so holzschnittartig, wie es uns immer dargestellt wird«, fuhr Shelby fort. »Ich meine, wer sagt denn, dass Luzifer wirklich so böse ist …«
»Na, doch jeder, oder?«, sagte Miles und suchte mit den Augen bei Luce Unterstützung.
»Falsch«, schimpfte Shelby. »Eine Gruppe von sehr überzeugend auftretenden Engeln sagt das, die sich gegen jede Veränderung stemmen. Nur weil sie vor langer Zeit einmal eine große Schlacht gewonnen haben, glauben sie, dass sie die Wahrheit gepachtet haben.«
Shelby ließ sich erzürnt gegen die Rückenlehne ihres Stuhls fallen. Was sie da gerade gesagt hatte, kam Luce von irgendwoher bekannt vor …
»Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben«, murmelte sie. Cam hatte das am Noyo Point zu ihr gesagt. War es nicht genau das, was auch Shelby meinte? Dass die Verlierer einfach immer unrecht hatten? Die Blickwinkel glichen sich jedenfalls sehr – nur dass Cam natürlich von Haus aus böse war. Oder? Und Shelby wahrscheinlich nur provozieren wollte und das gar nicht so
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